Die FDP und Thüringen: Lindners Legende
FDP-Chef Christian Lindner tut so, als sei die Unterstützung der AfD überraschend gewesen. Es gibt Hinweise, dass das eine faustdicke Lüge sein könnte.
Man musste Lindner so verstehen, als sei die FDP ein Opfer. Als habe sie nicht kommen sehen, dass die rechtsradikale Höcke-AfD den Liberalen Thomas Kemmerich mit zum Thüringer Regierungschef wählen würde. Auch wenn Kemmerich am Donnerstagnachmittag zurücktrat und so das Drama vorerst beendete: Christian Lindners Spin verdient es, hinterfragt zu werden, weil er viel über den FDP-Chef verrät.
Er war nicht der einzige Liberale, der überrascht tat. Das ZDF filmte eine hitzige Diskussion zwischen FDP-Bundesvize Wolfgang Kubicki, der Grünen-Bundestagsabgeordneten Franziska Brantner und dem Sozialdemokraten Thomas Oppermann. Die Szene spielte sich laut Brantner am Mittwoch gegen 15 Uhr im Europaparlament in Straßburg ab.
In ein Dilemma geraten?
Die AfD habe einen eigenen Kandidaten im dritten Wahlgang gehabt, wehrte Kubicki Kritik der KollegInnen ab. „Niemand konnte damit rechnen, dass der keine Stimmen …“ Das letzte Wort ist nicht zu verstehen, aber es ist klar, was Kubicki meint. Konnten also FDP und Union nicht wissen, dass die AfD ihren eigenen Mann fallen lässt, um mit CDU und FDP für Kemmerich zu stimmen? Das ist ein zentraler Punkt. Stimmt die Version von Lindner und Kubicki, hätte die FDP-Spitze nicht versagt. Sondern sie wäre unverschuldet in ein Dilemma geraten, durch die verräterische AfD.
Das Problem ist nur, dass Lindners Erzählung aus den eigenen Reihen widerlegt wurde. Von Leuten, die es wissen müssen – zum Beispiel von Thomas Kemmerich höchstpersönlich. Am Mittwochabend fragte ihn Marietta Slomka im „heute journal“, ob er nicht geahnt habe, dass die AfD die Gelegenheit nutze – schließlich habe es ausdrückliche Warnungen gegeben. Kemmerich antwortete, man habe seine Kandidatur „sehr detailliert in den Parteigremien besprochen“. Er fügte hinzu: „Und wir mussten damit rechnen, dass dieses passiert.“
Am Donnerstagmorgen war er dann im ARD-„Morgenmagazin“ zugeschaltet und sagte, er sei vorher, also vor der Wahl, „permanent“ mit Lindner in Kontakt gewesen. „Wir haben auch besprochen, was wir hier in Thüringen beschlossen haben.“ Lindner habe gesagt, „die Entscheidung trifft letztlich der Thüringer Verband“. Glaubt man Kemmerich, wusste die Thüringer FDP also sehr wohl, was passieren kann. Und sie tauschte sich eng mit Lindner aus, was in solchen Lagen auch der Normalfall ist.
Und Lindner war überrascht? Schwer zu glauben. Zumal noch eine wichtige Zeugin anderes erzählt. CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer sagte im „heute journal“ am Mittwochabend, dass sie und andere auf die Gefahr hingewiesen hätten, dass die AfD das Spiel spielen werde, welches sie dann auch gespielt habe. Sie habe auch Christian Lindner „sehr herzlich darum gebeten“, dafür zu sorgen, dass die FDP keinen Kandidaten aufstelle. Jener habe aber augenscheinlich nicht den Durchgriff in Thüringen gehabt, um die FDP vor Ort davon abzubringen.
Die Lockrufe der AfD
Aber Lindner war überrascht? Das glaube, wer will. Das Angebot der AfD zur Kooperation lag schließlich seit Monaten auf dem Tisch. Am 1. November, ein paar Tage nach der Landtagswahl, schrieb AfD-Rechtsaußen Björn Höcke einen Brief an Kemmerich. Darin bot er dem FDPler an, „gemeinsam über neue Formen der Zusammenarbeit ins Gespräch zu kommen“. Eine von der AfD unterstützte Minderheitsregierung wäre eine denkbare Alternative zu Rot-Rot-Grün, schwärmte Höcke.
Die Offerte wiederholte er danach im Landtag. In der Sitzung am vergangenen Donnerstag lud er CDU und FDP erneut dazu ein, gemeinsam „einen bürgerlichen Ministerpräsidentenkandidaten“ zu finden. Höcke rief: „Lassen Sie uns hier gemeinsam die geistig-moralische Wende einleiten.“ Die Lockrufe der AfD waren also unüberhörbar. Und die Variante war natürlich in den Landtagsfluren Thema, die Gerüchteküche brodelte. Aber die Berliner FDP-Spitze wurde kalt erwischt?
Das digitale Wirtschaftsmagazin Business Insider meldete am Donnerstag das Gegenteil. Die FDP-Führung habe sich sehr wohl auf die Wahl Thomas Kemmerichs eingestellt. Am Montagabend habe jener nach einer Sitzung des FDP-Landesvorstandes mit Lindner telefoniert. Dabei informierte Kemmerich ihn, dass er im dritten Wahlgang antreten werde, sollten dann Ex-Ministerpräsident Bodo Ramelow und der AfD-Kandidat Christoph Kindervater weiter zur Wahl stehen. Das Argument: Man wolle dem bürgerlichen Lager ein alternatives Angebot machen.
Grünes Licht
Laut dem Bericht wurde bei dem Gespräch auch die Möglichkeit erörtert, dass Thomas Kemmerich mit den Stimmen der AfD gewählt werde. Christian Lindner, so das Magazin, habe dafür laut Aussagen aus dem engen Führungskreis der FDP grünes Licht gegeben. Die FDP dementierte die Story auf Twitter: Zu keinem Zeitpunkt habe Lindner „intern oder öffentlich eine wie auch immer geartete Kooperation mit der AfD gebilligt“.
Bei einem Dementi kommt es auf jedes Wort an. „Gebilligt“ hat Lindner eine Kooperation mit der AfD vielleicht nicht. Aber offenbar hat er geduldet, dass die Thüringer FDP wissentlich das Risiko der Leihstimmen von der AfD einging. Und viel deutet darauf hin, dass er dieses Führungsversagen übertünchen wollte, indem er sich im Nachhinein überrascht gab.
Man hat angesichts dieses Desasters viele Fragen an die FDP: Bleibt Christian Lindner bei der Aussage, die Unterstützung der AfD sei „überraschend“ gewesen? Wie erklärt er die Aussagen seines Parteifreundes Kemmerich? Und bleibt auch Wolfgang Kubicki bei seiner Aussage, niemand habe damit rechnen können, dass die AfD ihren eigenen Kandidaten am Ende fallen ließ?
Entsprechende Fragen der taz an die FDP-Pressestelle blieben bis zum späten Donnerstagnachmittag unbeantwortet. Mag sein, dass es eine schlüssige Erklärung für all die Widersprüche gibt. Vielleicht ist es aber auch ganz einfach und Christian Lindner und Wolfgang Kubicki haben eine faustdicke Lüge verbreitet.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Wirkung der Russlandsanktionen
Der Rubel rollt abwärts
Frauen in der ukrainischen Armee
„An der Front sind wir alle gleich“
Rauchverbot in der Europäischen Union
Die EU qualmt weiter
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag