Die Ärzte und das neue Album „Hell“: Streben nach Schönheit
Wie stabil ist eine Liebe zur Punkband Die Ärzte? Das fragt sich unsere Autorin nach vielen Auf und Abs und wegen des neuen Albums „Hell“.
Lennon-McCartney. Jagger-Richards. Urlaub-Felsenheimer. Als Kind war ich großer Beatles-Fan – mein Lieblingsbeatle war keiner der Hauptkomponisten, sondern Ringo, eine abwegige Wahl – aber mein Faible für Schlagzeuger war damit gesetzt. 1998 schenkte mir mein Vater – Stones-Fan – „13“, das damals aktuelle Album von Die Ärzte.
Dass dieses Werk die Popularität der Berliner Band auf ein neues Level beförderte („Männer sind Schweine“) und es das erste Album war, das sie auf ihrem eigenen Label veröffentlichten, obwohl der enorme Stress fast zur erneuten Auflösung geführt hätte, all das wusste ich noch nicht. Als damals Sechsjährige liebte ich ihren Song „Goldenes Handwerk“: In ihm geht es um Schlagzeuger. Genauer, um den von den Ärzten – Bela B –, ich erkor ihn zu meinem Helden.
Die Ärzte haben mir beigebracht, was Ironie ist: Der Drummer singt darüber, dass Drummer dumm sind?! Männer singen darüber, dass Männer Schweine sind?! „Dies ist ein Lied für dich, weil du uns schon immer scheiße fandst“? Das Konzept Provokation blieb mir zu dem Zeitpunkt noch verborgen. Wo es in „Meine Freunde“ heißt: „Sie ficken sich ganz einfach so gegenseitig in den Po“, verstand ich damals: „Sie zwicken sich ganz einfach so gegenseitig in den Po.“
Ärzte-Ultra wurde ich erst als Teenager – ihre Musik war ständige Begleiterin meiner Pubertät. Die Welt und mein Selbst veränderten sich, ein Punkt meiner Identität blieb fix: Ärzte-Fantum. Ich inhalierte alles, was ich an Informationen über meine Helden bekommen konnte, schleppte meine Eltern im Berlin-Urlaub nach Spandau, um den historischen Ort des ersten Aufeinandertreffens von Bela B und Farin Urlaub zu besichtigen.
Vergessen die skandalösen Zeiten
Wenn ich eine neue Ärzte-Platte in die Finger bekam, war es jedes Mal, als würde ein Schatz gehoben. Keine Strapaze war zu groß, um bei ihren Konzerten in der ersten Reihe zu stehen (15 Stunden ohne Klogehen!). Wer – wie ich – mit Ärzte-Shows sozialisiert wurde, ist für alle anderen Konzerte für immer versaut: Nur Die Ärzte spielen drei Stunden, wovon eine Stunde Ansagen sind, veranstalten La-Ola-Eskapaden, ändern spontan Songtexte!
Inzwischen werden die Künstler als gediegene, ältere Herren wahrgenommen – vergessen sind die skandalösen Zeiten, in denen Leute dafür kämpften, dass Konzerte der meistzensierten deutschen Band verboten werden.
Im Zeitalter von Gangsta-Rap kann man niemanden mehr damit schocken, Ärzte-Fan zu sein. Außer vielleicht meine Oma, die wollte mir die Live-DVD „Die Band, die sie Pferd nannten“ nicht schenken, weil sie den Songtitel „Motherfucker 666“ auf der Coverrückseite las. Klar, ich würde mir heute kaum mehr ein lebensgroßes Poster einer skelettierten, gefesselten Frau ins Zimmer hängen.
Wenn nicht ums Schockieren, dann ging es um Abgrenzung. Du verstehst die Ärzte nicht? Dann verstehst du mich nicht! Aber eigentlich will ich ja auch gar nicht verstanden werden. Weil man die Band natürlich selbst als Einzige wirklich versteht und sie für sich allein haben möchte. Frommer Wunsch, wenn die Lieblingsband die erfolgreichste Punkrockband des Landes ist.
Quatsch labern in Interviews
Sie sind vielleicht keine begnadeten Musiker, aber darum geht es bei den Ärzten auch gar nicht. Worum es bei ihnen geht, ist die Abgrenzung, Dinge zu tun, die sonst keiner tut. Popstar zu werden, weil man behauptet, genau das zu sein; auf der Bühne und in Interviews nur Quatsch labern; sich auflösen, wenn man am erfolgreichsten ist; Alben in Plüschhüllen und Pizzaschachteln auskleiden; das eigene Musikvideo zensieren; für niveaulose Witze gefeiert werden; Lieder komponieren, die von ihren eigenen Wendepunkten leben.
Die Band war schließlich mit schuld, dass ich nach Berlin zog, und dort erlebte ich 2012 den ersten Ärzte-Release als Erwachsene und fragte mich, warum meine Begeisterung plötzlich abgekühlt war: Man kann es nicht anders sagen, das Ärzte-Album „auch“ war enttäuschend. Seine erste Textzeile „Fick dich und deine Schwester“ aus dem Song „Ist das noch Punkrock?“ hat Kultstatus, viel mehr gab es nicht zu holen. Ihr Song „ZeiDverschwÄndung“ war sich selbst erfüllende Prophezeiung: „Es gibt Besseres zu tun, als die Ärzte zu hören.“
Danach wurde es still um die Band, die drei Musiker gingen ihre eigenen Wege: Soloalben, Reisen, Buchschreiben, Filmdrehen. Konnte es wirklich sein, dass die „beste Band der Welt“ ihre Geschichte im Stillen beendete?
Angst vorm neuen Album
Nein. Nachdem sie ihr bisheriges Gesamtwerk in der Deluxe-Box „Seitenhirsch“ wiederveröffentlichten und damit Auflösungsgerüchte einmal mehr befeuerten, gingen sie 2019 auf Clubtour quer durch Europa – bekamen wieder Lust, nahmen nun ein neues Album namens „Hell“ auf. Dann hörte ich die ersten neuen Ärzte-Songs seit mehr als acht Jahren – und hatte ein bisschen Angst davor.
Unbegründet, denn da war sie wieder, die alte Magie. Ein Intro mit rätselhaftem Titel, Sound und charmantem Größenwahn: „Unser Streben nach Schönheit und Perfektion führt uns zurück zum Mikrofon.“ Im zweiten Song gleich die Klarstellung: „Dies ist mein Leben – es gibt keinen Plan B.“
„Hell“ ist eine Schatzkiste voll von Querverweisen aus dem Ärzte-Kosmos: Diesmal geht es nicht darum, wie dumm Schlagzeuger, sondern wie langweilig Gitarristen sind. Wieder einmal wird der Punk-Begriff ironisch durchexerziert, Farin singt über Sommer, Sonne, Strand und Meer, Bela über Verlierer.
1A-Social-Media-Kampagne
Bassist Rod hat nur einen eigenen Song und in dem singt er über Plastik – Kafkas „Verwandlung“, aber nicht mit Ungeziefer, sondern mit Polyester und Klimakrise. Ungewöhnlich viele aktuelle Bezüge kratzen an der sonst Ärzte-typischen Zeitlosigkeit: Verschwörungsideolog*innen, „Woodburger“, Chris Hemsworth, Beyoncé und „Hey Siri, erzähl mir über Sex mit Alexa“.
Die zweite Single-Auskopplung, „True Romance“, wurde direkt zum Nummer-eins-Hit, dank einer 1A-Social-Media-Kampagne: Unter dem Hashtag #singtrueromance ging der Track schon als A-cappella-Version von den Donots, Carolin Kebekus, Roland Kaiser, K.I.Z., den Toten Hosen und weiteren viral, bevor die Originalversion der Ärzte veröffentlicht wurde.
Natürlich hat „Hell“ schwache Momente: Sehr schade, dass bislang nur Songs als B-Seiten veröffentlicht wurden, die man schon kennt – dieser Ausschuss ist im Ärzte-Kosmos ansonsten eine amüsante Nabelschau. Doch an vielen Stellen fühlt sich die Musik auf „Hell“ an wie nach Hause kommen. Ja, es macht wieder Spaß, die Ärzte zu hören.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag