Der Weg zur Klimagerechtigkeit: Wissenschaft fordert mehr Tempo

Eine Allianz von WissenschaftlerInnen fordert radikale Einschnitte für Superreiche zugunsten der Ärmsten. Sie warnt vor Feuern und Kipppunkten.

Feuerwehrleute an einem brennenden Busch

Feuerwehrleute in Markati bei Athen im Sommer 2021 Foto: Alkis Konstantinidis/reuters

GLASGOW taz | Die explosivste Sprengstoff versteckt sich auf Seite 24: „Eine gerechte Verteilung des CO2-Budgets erfordert vom reichsten 1 Prozent der Weltbevölkerung, ihre Emissionen mindestens um den Faktor 30 zu senken. Die Pro-Kopf-Emissionen von 50 Prozent der weltweit ärmsten Bevölkerung könnten sich dagegen vom jetzigen Niveau verdreifachen.“ Radikale Schnitte für die Superreichen, Wachstum für die ärmere Hälfte der Welt – diese Forderung stellt auf dem Klimagipfel von Glasgow eine Gruppe renommierter WissenschaftlerInnen, UN-Organisationen und Forschungsinstitute, die sich unter dem Label „future­earth“ zusammenfinden.

Rechtzeitig zum Beginn der entscheidenden zweiten Woche auf der Konferenz legten sie am Donnerstag ihren Bericht „Zehn neue Einblicke in die Klimawissenschaften“ vor. Manches darin ist tatsächlich bislang unbekannt, anderes verstärkt bisherigen Annahmen. Der Bericht bilanziert, dass ein „Wegsteuern von katastrophalem Klimawandel notwendig, dringend und möglich ist“, wie es heißt.

Die Chefin des UN-Klimasekretariats, Patricia Espinosa, sagte bei der Vorstellung: „Wir müssen vom langsamen Wandel wegkommen und jetzt die richtigen Entscheidungen treffen.“ Und Johan Rockström, Co-Direktor des Potsdam Instituts für Klimafolgenforschung (PIK) und einer der 55 Autoren, fordert: „Jeder Verhandler hier sollte diesen Bericht in der Tasche haben, wenn er Entscheidungen fällt. Uns läuft die Zeit davon.“

Im Einzelnen liefert der Report vier Beschreibungen und sechs Empfehlungen. Die Einhaltung der 1,5-Grad-Grenze sei „noch möglich, verlangt aber sofortiges und drastisches Handeln“, schreiben die AutorInnen. Die weltweiten Emissionen müssten bis 2040 jedes Jahr mindestens um 5 Prozent sinken (fast so viel wie 2020 während der Corona-Rezession), um zumindest eine Fifty-fifty-Chance auf die 1,5-Grad-Grenze zu halten.

Aber Rockström weist auch auf oft unterschätzte Klimakiller hin: Bisher „bringt uns schnelles Wachstum bei den Emissionen von Methan und Stickoxiden auf einen Kurs zu 2,7 Grad“, vor allem die Landwirtschaft müsse sich ändern. Methan könne einfach und günstig bis 2030 um 45 Prozent reduziert werden – das groß angelegte „Methan-Versprechen“ von 100 Staaten auf der COP stellt aber gerade mal 30 Prozent in Aussicht.

Zeitalter der Megafeuer

Neu sind auch zwei weitere Beobachtungen: „Wir treten in ein Zeitalter der Megafeuer ein“, warnt Rockström. Riesige Brände wie in Australien, Russland oder Nord- und Südamerika würden sich bald häufen, ganze Ökosysteme bedrohen und die Klimakrise anheizen. Mit Sorge sehen die Forscher auch, dass „Kipppunkte“ von großen Umwälzungen im Erdsystem wahrscheinlicher werden: Die Eisschilde an Nord- und Südpol bröckeln teilweise, der Golfstrom und andere Meeresströmungen schwächen sich deutlich ab, der Amazonas-Regenwald entlässt mancherorts mehr CO2 in die Luft als er speichert.

Der Forschungsverbund begnügt sich nicht mit der Präsentation von Zahlen. Für die WissenschaftlerInnen ist klar: Wenn die Radikalkur zu 1,5 Grad gelingen soll, muss vieles zusammenkommen: Ein „gerechter Übergang“ zu einer klimagerechten Wirtschaftsweise muss die ärmere Bevölkerung entlasten.

Die Einnahmen aus einem CO2-Preis, den es bisher nur auf 22 Prozent der globalen Emissionen gibt, sollten so verteilt werden, dass Arme davon profitieren. Ein aktueller Bericht der Entwicklungsorganisation Oxfam über „Kohlenstoff-Ungleichheit“ zeigt, dass reiche Bevölkerungsteile überproportional verantwortlich für die Klimakrise sind.

Überhaupt müsse mehr über Verhalten und Verbrauchsmuster gesprochen werden, fordern die WissenschaftlerInnen von „Future Earth“. „Wenn wir beim Status quo des Konsumwachstums bleiben, gefährden wir jeden Erfolg der Dekarbonisierung“, etwa bei Kraftwerken, heißt es.

Die Klimakrise als einen Notfall wie die Coronapandemie zu begreifen, könne Verhalten ändern: Weniger Fleisch essen, weniger Autos und Flugzeuge nutzen, anders heizen. Der große Vorteil laut dem Report: Mittelfristig würde sich Klimaschutz auch durch eingesparte Kosten im Gesundheitssystem bezahlt machen: „Die Vorteile für die Gesundheit haben häufig mehr ökonomischen Wert als die Kosten des Klimaschutzes.“

Schließlich mahnen die ForscherInnen, die Klimakrise sei nur durch besseren Naturschutz zu bekämpfen. Für eine Senkung der CO2-Emissionen seien biologisch funktionierende Ozeane und Landsysteme unerlässlich. „Natur-gestützte Lösungen“ hätten große Vorteile, dürften aber nicht die Landrechte indigener Völker, die Interessen von Entwicklungsländern oder andere Nachhaltigkeitsziele missachten. Auf keinen Fall dürften Naturlösungen, wie etwa Aufforstungen im Globalen Süden, dazu führen, dass reiche Länder sich von ihren CO2-Emissionen freikaufen.

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