Der Therapeut Andreas Schnebel übers Teller-Leeressen: „Bewusst mit Essen umgehen“
Ein Restaurant erhebt Strafzahlungen, wenn man nicht aufisst, um einer Verschwendung vorzubeugen. Aus medizinisch-therapeutischer Sicht ist das bedenklich.
taz: Herr Schnebel, essen Sie manchmal ihren Teller nicht leer?
Andreas Schnebel: So ist es. Ich sage auch immer meinen Kindern und meinen Patienten, dass sie essen sollen, was ihnen schmeckt, und sich trauen sollen, Essen stehen zu lassen, das ihnen nicht schmeckt.
Was löst der Zwang zum Aufessen unter Androhung von Strafe bei Menschen aus?
Zwang löst Druck aus, dass wissen wir ja alle. Mit Druck gehen Menschen verschieden um – manche sind brav und angepasst, beugen sich dem Druck und essen auf. Andere werden vielleicht trotzig und machen es erst recht nicht.
Letzteres wäre ja nicht schlimm – kostet in besagtem Restaurant aber Geld. Welche Gefahren birgt das Konzept?
Bei Menschen mit Übergewichtsproblemen ist die Gefahr, dass sie, weil sie angepasst sein wollen, mehr essen und dann noch mehr zunehmen oder sich nicht gut fühlen. Bei Menschen, die Bulimie haben, ist natürlich die Gefahr, dass sie es erbrechen. Und Magersüchtige – naja, die gehen eh nicht zum Essen.
Dem Restaurant geht es darum, dass KundInnen realistisch einschätzen, wie viel sie essen. Ist das nicht sogar förderlich für ein gesundes Essverhalten?
Das ist das Konzept eines Restaurants in der Rindermarkthalle:
Die Strafe fürs Nicht-Aufessen bezieht sich auf das „All you can eat“-Angebot.
Die Gäste bestellen per iPad ihr Sushi – höchstens fünf Variationen pro Runde.
Die nächste Runde kommt erst, wenn man die vorherige aufgegessen hat.
Bleibt viel übrig, zahlt man einen Aufpreis. Einen Euro pro Portion bei Sushi oder Salat, zwei Euro bei warmen Speisen.
Doch – an sich finde ich die Idee, bewusst mit Essen umzugehen, sehr gut. Aber man weiß ja im Restaurant vorher nicht, ob man es mag. Die Möglichkeit muss da sein, es dann zurückzugeben.
Das Restaurant behält ein Stück weit die Kontrolle über das Essverhalten der KundInnen. Was haben Essstörungen mit Kontrolle zu tun?
Sehr viel. Essgestörte wollen es unbedingt kontrollieren. Manche essen über Jahre exakt zur gleichen Zeit die gleiche Menge der gleichen Dinge. Deshalb essen die auch nicht in einem Restaurant – da weiß man nicht, wie viel Fett und was sonst so drin ist.
58, ist Vorsitzender des Bundesfachverbands Essstörungen und therapeutischer Leiter des Versorgungszentrums Anad.
Entwickeln Menschen, die als Kind aufessen mussten, eher Essstörungen?
Absolut. Was Essgestörte oft nicht können, ist einzuschätzen, was sie zu welcher Zeit wirklich essen wollen und was nicht. Es fällt ihnen schwer zu lernen, dass man sich das nicht vorschreiben lässt.
Warum kann Fremdkontrolle über das eigene Essverhalten zu Essstörungen führen?
Wenn Sie etwas auf keinen Fall aufessen wollen, aber müssen, ist das Essen sehr negativ belastet. Das kann zur Folge haben, dass Sie sich komplett verweigern und sagen: „Ich esse gar nichts mehr, was ihr mir vorsetzt.“ In Familien spielt der Machtfaktor eine großer Rolle. Autonomie heißt, selbst zu bestimmen, was ich esse.
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