Der Hausbesuch: Die Büglerin vom Bodensee
Sie bügelt, sie tanzt, sie hat viel gelacht und blickt zurück auf ein Leben, in dem sie von Danzig bis an den Bodensee kam. Nur wenig bereut sie.
Lachen kann die Welt verzaubern. Brigitte Geike weiß das. Einmal geschah, weil sie lachte, ein Wunder.
Draußen: Es gibt ein Paradies, und das liegt am Bodensee. Genauer auf der linken Rheinseite. Früher war es eine dörfliche Siedlung, heute gehört es zu Konstanz. Seinen Namen erhielt der Stadtteil nach einem Nonnenkloster. Brigitte Geike ist 84 und wohnt in Paradies. Sie ist keine Nonne, sie ist Büglerin.
Drinnen: Fast 100 Bilder hängen in Geikes Wohnung. Sie zeigen ihre Sehnsuchtsorte: die Ostseeküste auf Leinwand, einen großen Apfelbaum im Holzrahmen, aus Kalendern ausgeschnittene Fotos mit Blumengärten, Wiesen, Feldern und eine Menge Porträts von Katzen und Hunden dazu. Menschenporträts gibt es keine. „Ich liebe die pure Natur“, sagt sie und natürlich ihre graue Katze, die sich sofort streicheln lässt, um den Fremden dann schnell zu beißen.
Sauberkeit: Selbst mit der Lupe scheint es unwahrscheinlich, irgendwo in Geikes Wohnung ein Staubkorn zu finden. Die Falten der Vorhänge fallen symmetrisch auf den Millimeter. Die Türen aller Zimmer sind offen. Wenn Geike lächelt, verengen sich ihre Augen.
Bügeln: Sauberkeit sei ihre Leidenschaft, sagt sie. „Ich war in meinem ganzen Leben eine Arbeiterin.“ Sie hat Wohnungen und Gebäude geputzt. Mit 16 arbeitete sie in einer Wäscherei. Sie bügelte Bettwäsche. Das tut sie heute noch gern. Ihre alten Kunden bringen ihre Wäsche zu ihr nach Hause zum Bügeln. Das Bügeln ist wie eine Meditation für sie, sagt sie. Dabei hört sie kein Radio, keine Musik. Stundenlang steht sie in ihrem Schlafzimmer vor dem Bügelbrett. „Während des Bügelns sinke ich häufig in die Vergangenheit, dort, wo die schönsten Erinnerungen sind.“
Flucht: Sie wohnt am Bodensee und vermisst die Ostsee. Sie wurde in Danzig geboren. Als der Zweite Weltkrieg zu Ende geht, ist sie neun Jahre alt. Mit ihrer Mutter und zwei Schwestern zieht sie bei ihren Großeltern ein, im Fischerdorf Brösen, heute der Stadtbezirk Brzeźno von Danzig. Von Mai bis November wohnen sie dort, bis die „Polen uns aus Danzig rausschmissen“. Ihr Vater war damals noch nicht aus dem Krieg zurück. „Einen Monat lang waren wir ständig auf der Flucht.“ Berlin, Bremen, Schleswig und „was weiß ich, wo wir noch waren“. An eines erinnert sie sich: „In westlichen Bahnhöfen gab es weißes Brot und warmen Kakao.“
Die schönste Zeit: Weihnachten 1945 kommen sie in Schleswig an. Sie seien in einem alten Schulgebäude mit ganz vielen deutschen Flüchtlingen untergebracht worden, erinnert sie sich. Dort blieben sie über den Winter. Wie die Umstände dort waren? „Wir sind nicht gestorben.“ Sie seien in ein Dorf gekommen, wo nur drei Bauernhäuser standen. Helligbek heißt der Ort. Sie lacht, weil sie den Name der Ortschaft lustig fand. Dort habe sie bis 1951 ihre Schulzeit verbracht. „Das war die schönste Zeit meines Lebens.“ Da dort wenige Kinder waren, erzählt sie, saßen alle Schüler*innen der unterschiedlichen Klassenstufen in einem Raum. „Ich fand das schön. Es war wie in einer Großfamilie.“
Lachen: Sie war 11 oder 12, genau kann sie sich nicht erinnern, als sie mit anderen Kindern draußen spielte „Ich habe laut gelacht, als ein fremder Mann plötzlich näher kam. Es war mein Vater, der mich an meinem Lachen erkannte“, sagt sie. Er war aus russischer Gefangenschaft entlassen und wanderte als „Tippelbruder“ umher. „Er lief an uns vorbei und hörte mein Lachen. Er fragte, ob da Kinder aus Danzig lebten“, sagt sie. „Es war wie ein Wunder.“ Lachend erzählt sie das, ihre Augen sind dabei wieder ganz eng. „Lachen bringt mein Herz zum Pumpen.“
Trennung: Mit 15 Jahren zieht sie nach Köln. Sie sollte Verkäuferin werden. Das wollte der deutsche Staat, der Ausbildungsplätze für Flüchtlinge förderte. Für Geike war es keine gute Idee, so früh von der Familie getrennt zu werden. „Ich hatte Heimweh und wollte unbedingt zu meiner Familie zurück, die nach Göggingen, einer Gemeinde in Baden-Württemberg, umgesiedelt wurde.“ Sie bricht ihre Ausbildung ab und geht zu ihnen. Das bereut sie bis heute nicht. Sie freut sich noch immer, dass sie damals eine so mutige Entscheidung getroffen hat: „Alles zu beenden, das aufgezwungen war.“
Schicksal: Mit 20 heiratet sie und zieht nach Konstanz. „Heute würde ich das nicht wieder machen“, sagt sie. „Mit 20 Jahren hatte ich einen anderen Kopf – dumm und naiv.“ Ihr Mann war ein Zimmermann aus Berlin und arbeitete unter anderem in Konstanz. Er war viel unterwegs. Deswegen musste sie ihre drei Kinder fast allein erziehen. Innerhalb von zehn Jahren zerbrach die Ehe. „Die Liebe ging Jahr für Jahr weiter zurück“, sagt sie. Sie ließen sich scheiden. „Meine Küken habe ich bei mir behalten.“ Ihre älteste Tochter ist im Alter von 38 Jahren an Lungenkrebs gestorben. Die jüngere Tochter wohnt zwei Straßen weiter. Doch sie haben nichts mehr miteinander zu tun. „Ich kann damit leben“, sagt sie. „Weil ich weiß, dass ich trotz mehrerer Versuche daran nichts ändern kann.“ Ihre Liebe schenkt sie ihrem Sohn und dem Enkelkind, die in der Nähe von Konstanz wohnen.
Tierversuch: Mit 43 arbeitet sie in einem Pharmaunternehmen in Singen. Heute gehört es zu Takeda, einem der größten Medizinunternehmen der Welt. Sie fütterte die Tiere, spielte mit ihnen und brachte sie zum Labor für die Tierversuche. Sie erinnert sich: „Hunde durften nach dem Versuch länger leben, Katzen waren in einem Tag weg.“ Wie wirkte sich diese Arbeit auf sie aus? „Am Anfang hat es mir nichts ausgemacht, denn ich sah die Tiere ja nicht leiden“, sagt sie. „Es war mein Job. Hätte ich es nicht gemacht, hätte es jemand anderes gemacht.“ Und doch änderte sich etwas mit der Zeit. Es begann, ihr weh zu tun und sie bat ihre Kolleg*innen, die Tiere bis zur Labortüre zu bringen. 20 Jahre lang machte sie den Job, bis sie in Rente ging.
Zufriedenheit: Sie ist mit ihrem Leben zufrieden, weil „ich mir die Zufriedenheit selbst aufgebaut habe“, sagt sie. Meckern sei nie ihre Sache gewesen. Sie arbeitet und findet Spaß am Leben. „In meinem Alter liegen viele im Pflegeheim oder auf dem Friedhof“, sagt sie. Sie freue sich, dass sie den Alltag weiter selbständig bewerkstellige. Und noch mehr: Sie fährt Auto, macht Sport, geht tanzen, arbeitet im Garten vor ihrem Wohngebäude, führt Hunde der Nachbarn aus, liest viele Thriller, bügelt und wählte immer CDU, weil sie gerne Merkel als Kanzlerin behalten wollte. „Bevor die etwas sagt, überlegt sie das ganz genau“, sagt Geike und meint: „Merkel hat uns in all den Jahren gut über die Runden gebracht.“
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Tanzen: Seit 13 Jahren besucht sie jede Woche einen Tanzkurs, von argentinischen Tango bis zu griechischen Sirtaki. 21 Frauen und drei Männer sind in der Gruppe. Gibt es einen Kampf um die Männer als Tanzpartner? Die Frage bringt sie zum Lachen. Von drei Männern habe sie zwei an ihrer Seite. „Männer sind Tanzmuffel“, sagt sie „Sie wollen Frauen im Arm haben und sie führen. Wir tanzen eher Kreistänze, was Männer nicht so gerne mögen“, sagt sie. Nun schränkt die Coronapandemie das Tanzvergnügen ein. Doch sie hat eine Lösung gefunden. Sie macht das Putzen zum Tanz.
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