Demonstrationen gegen die FDP: „Schämt Euch!“
Tausende protestieren in Berlin, Erfurt, Jena und anderswo gegen die Allianz von AfD, FDP und CDU in Thüringen.
„Lieber mit Faschisten regieren, als nicht regieren“, ist in FDP-Gelb auf einem Schild zu lesen. Andere Plakate machen historische Bezüge, auf einem steht: „Hindenburg hätte FDP gewählt“. Das Schild hält Levi Penell. Der 19-Jährige sagt, er sei fassungslos, dass sich die FDP von der AfD unterstützen lasse: „Es gab ja vorher Mutmaßungen, aber das hätte ich nie gedacht.“
Nach der Wahl des FDP-Politikers Thomas Kemmerich zum Thüringer Ministerpräsidenten kam am Nachmittag kurzfristig der Aufruf zur Demo in Berlin-Mitte. Über Twitter und andere Netzwerke riefen nicht Parteien, sondern vor allem Einzelpersonen und soziale Bewegungen auf. Ein Veranstalter ist auf der Straße nicht erkennbar – voll ist es vor der FDP-Zentrale trotzdem.
Zwischendurch gibt es eine Rangelei mit der Polizei. Die will die Demonstration eigentlich auf den Bürgersteig begrenzen, aber die TeilnehmerInnen sind einfach zu viele. Die Beamten geben auf und sperren die Straße für den Verkehr.
Empfohlener externer Inhalt
Später am Abend sind viele Menschen dazugekommen, die man vor dem heutigen Tag vielleicht als bürgerlich bezeichnet hätte, wenn der Begriff nicht seine Würde verloren hätte. Es ist jetzt so eng auf der Straße, dass man kaum vor oder zurück kommt. 2.000 Menschen stehen schätzungsweise vor der Parteizentrale und rufen: „Der FDP kannst du nicht trauen, vorne Gelb und hinten braun!“ Und immer wieder: „Schämt Euch! Schämt Euch!“
Die Fenster bleiben zu
Überhören kann man die Demo in der FDP-Zentrale sicherlich nicht. Aber die Lichter bleiben aus, die Fenster geschlossen. Irgendwann leuchten DemonstrantInnen mit Taschenlampen die Fassade ab: Liberalismus, noch jemand zuhause? Ein Demonstrant malt sich aus, was passieren könnte: „Stell dir vor, Lindner tritt gleich ans Fenster und sagt: ‚Ich freue mich ihnen mitteilen zu können, dass ihr Rücktrittsgesuch …‘“
Man kann sich an diesem Abend nicht vorstellen, dass die FDP diese Wut, die sich vor der Parteizentrale Luft macht, so einfach abschütteln kann, dass sie abperlt an Christian Lindner. So viele Menschen wie heute, sagt einer, hätten die Liberalen wohl noch nie auf die Straße gebracht: „Alter, hier sind so viele Menschen, das hätte ich nicht gedacht.“
Und das nicht nur in Berlin: Deutschlandweit demonstrieren am Mittwochabend Tausende Menschen gegen die Wahl Kemmerichs zum neuen Thüringer Ministerpräsidenten. Proteste gibt es neben der Hauptstadt unter anderem in München, Hamburg, Köln und Leipzig – und natürlich in Thüringen selbst.
„Still mein MP“
In Erfurt sammeln sich schon am Nachmittag mehrere Hundert DemonstrantInnen vor dem Landtag, unter ihnen auch Abgeordnete von Linken, SPD und Grünen. Am Abend waren es dann um die Tausend. Die DemonstrantInnen halten Plakate mit Aufschriften wie „Betrug am Wähler“ und „Stoppt AfD“ hoch, auch ein Foto von Ramelow mit der Aufschrift „Still mein MP“ ist dabei. Dazu Pfiffe, Buhrufe und viele „Alle zusammen gegen den Faschismus“-Rufe. Der DGB hat zu der Kundgebung aufgerufen. Am späten Nachmittag verlagert sich der Protestzug in die Innenstadt.
Während sich in der Staatskanzlei dessen bisheriger Chef Benjanim-Immanuel Hoff (Linkspartei) bereits von den MitarbeiterInnen verabschiedet, sammeln sich vor der Tür die DemonstrantInnen. „Ich bin beeindruckt, wie viel Leute spontan hierher gekommen sind und laut werden“, sagt Melanie, eine junge Gewerkschafterin mit Mütze, die ihren Nachnamen nicht in der Zeitung lesen will.
„Ich musste einfach herkommen“, sagt die Demonstrantin Janine Meier, die hinter einem Kinderwagen steht. „Ich bin entsetzt. Ich habe es nicht für möglich gehalten, dass Kemmerich sich von den Rechtsextremisten an die Macht wählen lässt. Für den Mann haben doch gerade fünf Prozent der Thüringer gestimmt.“
Dann soll eine Menschenkette um die Staatskanzlei gebildet werden. „Der“, gemeint ist der neue Ministerpräsident, „soll merken, dass er nicht an uns vorbei kommt“, ruft einer aus dem Lautsprecherwagen. Der Song „Schrei nach Liebe“ von den Ärzten dröhnt aus den Boxen, das „Arschloch“ im Refrain wird kräftig mitgegrölt.
Innerhalb weniger Minuten ist die Kette geschlossen, die Leute stehen dicht an dicht. Mehre Hundert dürften es sein. „Not my (Minister)President“ und „Lieber mit Faschisten regieren als gar nicht regieren“ sind beliebte Parolen auf den hochgehaltenen Schildern.
Irgendwann kommt Linkspartei-Mann Hoff aus der Staatskanzlei und wiederholt, mit welchen Worten er sich bei Kemmerich verabschiedet habe, historische Parallele inklusive: „Sie müssen damit leben, ein Ministerpräsident von Gnaden derjenigen zu sein, die Liberale, die Bürgerliche, die Linke und Millionen weitere in Buchenwald und anderswo ermordet haben“, sagt Hoff. Später stellt er einen Mitschnitt unter #Neuwahlen und #niewieder auf Twitter.
Protest auch in der Uni-Stadt
Auch in Jena gibt es zu diesem Zeitpunkt Proteste. In der Thüringer Universitätsstadt folgen 2.000 überwiegend junge Menschen einem Aufruf von Linken, Grünen, Jusos und weiteren Organisationen. Über eine improvisierte Lautsprecheranlage am Holzmarkt protestierten RednerInnen gegen das Zusammengehen von FDP, CDU und AfD, das zu Kemmerichs Wahl führte.
Wiederholt wird dabei die AfD als faschistische Partei bezeichnet und wegen ihrer völkischen Haltungen attackiert. Der CDU und der FDP werfen die RednerInnen Verantwortungslosigkeit vor. VertreterInnen der Grünen fordern wie zuvor schon ihre Landtagsfraktion Kemmerich zum sofortigen Rücktritt auf. „Lieber mit Nazis regieren als gar nicht regieren“, heißt es auf spöttischen Schildern auch hier.
Sowohl auf der improvisierten Rednertreppe als auch unter den DemonstrantInnen wird immer wieder die Überzeugung geäußert, dass ein solcher Wahlausgang absehbar gewesen sei. Ein Mitglied des Studierendenrates der Jenaer Universität kündigt an, das Gremium wolle seine Illoylität gegenüber dem Ministerpräsidenten erklären. Vereinzelt sind sogar Rufe nach einem Generalstreik zu hören. Im Gespräch plädieren DemonstrantInnen für Neuwahlen. Ansonsten, sagt einer von ihnen, „haben wir hier die Komplettkatastrophe“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Paragraf 218 im Rechtsausschuss
CDU gegen Selbstbestimmung von Frauen
Partei stellt Wahlprogramm vor
Linke will Lebenshaltungskosten für viele senken
FDP stellt Wahlkampf Kampagne vor
Lindner ist das Gesicht des fulminanten Scheiterns
Syrische Geflüchtete in Deutschland
Asylrecht und Ordnungsrufe
Wahlkampf-Kampagne der FDP
Liberale sind nicht zu bremsen
Sednaya Gefängnis in Syrien
Sednaya, Syriens schlimmste Folterstätte