Demokratie und Großkrisen: Den politischen Raum öffnen
Krisen verlangen neue Wege. Anstatt Interessen frontal gegenüberzustellen, sollte die Politik danach fragen, wie wir gemeinsam leben können.
M it „der Politik“ ist etwas passiert: Sie hat „die Menschen“ entdeckt. Also nicht spontan oder epiphanisch, in einem Akt der humanistischen Erweckung; sondern eher tastend, taktisch, in einer Art humanistischem Schwindel. Ich würde nicht direkt Lüge sagen, sondern ich würde es eher Strategie nennen. Sie hat sich dadurch verändert, „die Politik“, in ihrem Wesen und Selbstverständnis.
Sie ist heimeliger geworden, unpräziser und im Geist der Zeit auch populistischer – denn der Verweis auf „die Menschen“ impliziert ja eine mehr oder weniger homogene Gruppe, die einem elitär-technokratischen oder vernunftgeleiteten Weg entgegensteht. „Die Politik“ ist dadurch in gewisser Weise weniger demokratisch geworden, auch wenn die, die so oft von „den Menschen“ reden, genau das Gegenteil behaupten würden.
Aber die Demokratie betrifft erst einmal nicht „die Menschen“ – sie ist eine Regierung des Volkes, durch das Volk und für das Volk, wie es Abraham Lincoln in der Gettysburg Address 1863 im Zuge des Amerikanischen Bürgerkriegs zusammenfasste. Oder, wie es die politische Philosophin Danielle Allen gerade sehr zeitgemäß gesagt hat: Demokratie ist der stete Widerstand gegen oligarchische Tendenzen in der Gesellschaft.
Es gibt natürlich viele Definitionen, je nach politischem Lager – aber eines ist vielleicht klar: Demokratie ist ein Ziel und kein Zweck. Im Prozess der Demokratie nun tauchen „die Menschen“ als Gruppierung nicht auf; es geht um jeden einzelnen Menschen, mit seinen oder ihren Rechten, die geschützt und durchgesetzt werden müssen.
ist Chefredakteur von „The New Institute“ in Hamburg. 2020 erschien von ihm zusammen mit Philip Grözinger das Buch „Blogdown. Notizen zur Krise“, Frohmann Verlag.
Rhetorischer Bremsklotz
Es geht also darum, etwas zu bedeuten, wenn „die Menschen“ immer häufiger erwähnt werden – in einem früheren Stadium etwa vor ein paar Jahren in der Version „die Kohlekumpel“ oder „der Mann am Fließband“, als es darum ging, einige wenige Zehntausend Jobs in der fossilen Industrie zu retten und mehrere Zehntausend Jobs in der Solarindustrie zu opfern.
Und auch nun wieder im Kontext des Klimawandels – angesichts der notwendig gravierenden Veränderungen wird immer davor gewarnt, die Gesellschaft zu spalten, zu verschrecken, „die Menschen“ auf dem langen Weg in die sozial-ökologische Gesellschaft mitzunehmen; allerdings wird vor allem von Leuten gewarnt, die selbst die Gesellschaft spalten, etwa indem sie einer recht kleinen Partei mit sehr artikulierten Partikularinteressen angehören, wie es die FDP ist; oder indem sie erkennbar gar nicht die notwendige grüne Wende im Blick haben, sondern nur die nächste Wahl.
Die Rede von „den Menschen“ ist damit zu einem rhetorischen Bremsklotz geworden. Inhaltlich wird deutlich, welche Politik mit dieser beschworenen Mehrheit gemeint ist – denn wenn es um Steuererleichterungen für die Reichen etwa geht, wird ja nicht von „den Menschen“ gesprochen, die man mitnehmen muss, und auch nicht dann, wenn es darum geht, Menschen auf der Flucht abzuholen, damit sie nicht im Mittelmeer ertrinken. Die Rede von „den Menschen“ maskiert mit anderen Worten das, worum es in der Politik immer geht: Interessen.
Und das wiederum ist nicht ganz unwichtig. Politik ist der Prozess legitimer Entscheidungsfindung – sie ist damit in der gegenwärtig reduktionistisch-repräsentativen Form immer partikular, sie ist auf Konflikt ausgelegt, der durch Kompromisse geregelt wird. Es könnte natürlich anders sein, eine andere Form von Politik ist möglich und denkbar – eine Politik, die Interessen weniger frontal gegeneinanderstellt, die die menschlichen und die nicht-menschlichen Interessen berücksichtigt, die also eher nicht von „den Menschen“ handelt, sondern das Leben als Ganzes meint.
Teil einer verwobenen Realität
Hier gibt es gerade eine faszinierende Anzahl von Büchern, Gedanken, Möglichkeiten, das zu definieren, was das Mehr-als-Menschliche ist – Bücher etwa von James Bridle, Bayo Akomolafe, Minna Salami, Corine Pelluchon, Jeremy Lent, George Monbiot, Ursula Goodenough, Lorenzo Marsili, um nur ein paar zu nennen: Es ist eine gemeinsame und sehr heterogene Reflexion darüber, wie im Zuge des Klimawandels unser planetares Denken anders definiert werden kann und muss, wie wir uns als vernetzte und verbundene Wesen sehen – nicht als „die Menschen“, sondern als Teil einer verwobenen Realität.
In diesem Denken gibt es weniger Interessen, die das Verhalten und letztlich so etwas wie Politik steuern – es geht mehr darum, die Bedürfnisse zu sehen, zu formulieren, anzuerkennen. Es ist eine Umkehrung des Weltbildes des Menschen als rational und von eigenen Vorteilen gesteuertes Wesen, es ist eine weichere und dabei existenziellere Formulierung dessen, was das Leben braucht, was das Leben ausmacht, wie sich das gemeinsame Leben auf diesem Planeten gestalten lässt.
„Die Menschen“ als nicht demokratisch zu fassende Gruppe, als rhetorisches Phantasma und populistische Nebelkerze stehen dem entgegen – und das mit Absicht. Es geht genau darum, den politischen Prozess zu verlangsamen, indem man ihn in gewisser Weise aushebelt; es geht darum, Gruppen wiederum, die mit anderer Energie Veränderung vorantreiben, gegenwärtig etwa die Letzte Generation, zu stigmatisieren und letztlich aus dem demokratischen Rahmen zu verdrängen, der wiederum selbst willkürlich falsch gesetzt ist.
Es geht darum, mit der Beschwörung „die Menschen“ den demokratischen Raum nicht inklusiv, sondern exklusiv zu gestalten. Damit steht eine Politik, die „die Menschen“ aufruft, im Zweifel einer menschlichen Politik entgegen. Im Zeitalter der planetaren Großkrisen geht es darum, den politischen Raum radikal zu öffnen und Prinzipien, Prozesse, das Wesen der Politik neu zu denken – nicht durch Abwehr, sondern indem akzeptiert wird, dass Veränderungen auf verschiedene Art und Weise passieren, manchmal sogar gegen „die Menschen“.
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