Demokratie und Bürgerbeteiligung: Paternalismus in Reinkultur
Erklärungen, die das Ziel haben, Widerspruch abzuschmettern, sind ein Problem. Gerade jetzt sind öffentliche Debatten an der Basis notwendig.
Z um Wesen des bundesdeutschen Parlamentarismus gehört, dass Abgeordnete sich nur alle vier Jahre den Urteilen der Regierten stellen müssen. Zwar gibt es zwischendurch regionale Wahlen, zudem spiegeln Umfragen stetig die Stimmung im Lande. Zentrale Entscheidungen aber werden in internen Zirkeln getroffen, bestenfalls ergänzt durch Anhörungen mit Interessenverbänden und politischen Lobbys. Ein echter Austausch mit „den Menschen da draußen“ ist in diesem System kaum vorgesehen.
Über besonders strittige Themen, wie Aufrüstung, Atomkraft, Hartz IV oder die Coronapolitik, wird nicht direkt abgestimmt. Plebiszite, wie sie in der Schweiz regelmäßig stattfinden, haben in Deutschland einen schlechten Ruf, schon wegen negativer Erfahrungen in der Weimarer Republik. Die Direktwahl des rechtsnationalen Generalfeldmarschalls Paul von Hindenburg, der 1925 den sozialdemokratischen Reichspräsidenten Friedrich Ebert ablöste, erleichterte später die Machtübernahme der Nazis.
Volksbefragungen als Beteiligungskonzepte, die nicht durch parlamentarische Filter kanalisiert werden, können zu unbequemen Ergebnissen führen. Stattdessen ist das „Erklären“ die neue Zauberformel. Besonders häufig praktiziert sie Robert Habeck. Auf den ersten Blick hebt er sich damit positiv ab von einstigen „Basta“-Politikern wie Gerhard Schröder oder auch Helmut Kohl.
Doch ob es um Waffen für die Ukraine oder um die Energiekrise geht, der Vizekanzler erklärt stets erst dann, wenn er eine Entscheidung getroffen hat. Vorhaben, die erklärungsbedürftig sind, sollte die Politik jedoch vor ihrer Umsetzung debattieren – nicht nur im kleinen Kreis von Fachleuten, sondern auch mit denen, die die massiven Konsequenzen zu tragen haben. Das würde, gerade in der aktuellen Kontroverse um Sanktionen und ihre inflationären Folgen, Widerspruch ermöglichen.
Suggestion von Bürgernähe
Wer sein Handeln erst im Nachhinein erläutert, will sich nicht rechtfertigen, er will sich positionieren. So stellt sich die Regierung nur scheinbar den Bedenken derjenigen, die sie gewählt haben. Dabei wäre echte Beteiligung notwendiger denn je, denn für viele Betroffene geht es derzeit um existenzielle Fragen. Geduldig um Verständnis werben wirkt bürgernah und soll Nähe suggerieren. „Den Menschen da draußen“ die Welt zu erklären macht beliebt.
Anfangs ging das von der Kommunikationsberatung inspirierte Kalkül auf. Habeck stand mit Annalena Baerbock – bei einer Reise ins Baltikum wollte sie ihre Politik „in 40 Punkten noch mal erklären“ – lange an der Spitze im ARD-Deutschlandtrend. Erst in den letzten Wochen sind die Werte wegen seines Managements der Energiekrise gesunken. Hinter geschickter Rhetorik verbirgt sich ein hierarchisches Verständnis, wie Politik am besten zu vermitteln sei.
Erklärungen, auch wenn sie gut gemeint sein mögen, ignorieren die Bedenken der Regierten, es handelt sich um Paternalismus in Reinkultur: Wir hier oben wissen Bescheid, wir haben den Überblick. Eure Einwände interessieren nicht, weil ihr unwissend seid. Deshalb sagen wir, warum es so und nicht anders laufen muss. Stark zugenommen hat das Erklären während der Pandemie.
Vor allem im ersten Lockdown ging es um das eingängige Verbreiten komplizierter wissenschaftlicher Zusammenhänge – und um die Akzeptanz angeblich unvermeidbarer „Maßnahmen“. Das Virus lässt sich nicht aufhalten, darum sind unsere Beschlüsse alternativlos! Wir verordnen sie einfach, aber wir sind bereit, sie euch zu erklären. Unterhalb dieser Oberfläche wurde auf einen anderen Effekt gesetzt: Blockade des Zweifels durch Angstmache.
Angst lähmt Widerstand
Wer Angst hat, kann nicht gut denken, und die Anziehungskraft autoritärer Ideen wächst, wenn Menschen an ihre Sterblichkeit erinnert werden. Erklären ist nichts grundsätzlich Schlechtes. Wenn Eltern wissbegierige Fragen ihrer Kinder beantworten, ist das pädagogisch sinnvoll. Schwierig werden Erklärungen, wenn sie politische Macht durchsetzen sollen. Sie dienen dann schlicht dazu, Entscheidungen unhinterfragt zu lassen: Ihr müsst es jetzt endlich einsehen, ich habe es euch doch gerade erklärt!
In Coronazeiten etablierte sich eine von Virologen, Medizinerinnen, Mathematikern und Physikerinnen dominierte Expertokratie. Diese geschlossene Front, an der sich Politik und auch weite Teile des Journalismus einseitig orientierten, duldete keine abweichenden Fakten und Meinungen. Verräterisch äußerte sich dazu in der Rückschau Karl Lauterbach, in einer Talkshow, wo sonst. Er habe nie etwas gegen Kritik gehabt, bekannte er in der Runde von Markus Lanz, aber diese müsse von Menschen mit Fachkenntnis kommen.
Gegenrede duldet der Gesundheitsminister nur aus medizinischer Sicht – und auch nur von jenen, die nach seinen Kriterien kompetent sind, die dieselben Studien gelesen haben wie er selbst und dieselben Schlüsse ziehen. Lästige Kommentare anderer Naturwissenschaftler:innen, aus geisteswissenschaftlichen Disziplinen oder gar von völligen Laien sind für ihn einfach nicht satisfaktionsfähig. Mit denen braucht man nicht zu diskutieren, die muss man nicht ernst nehmen.
Die hinter dieser Haltung steckende Mentalität führt zu Unmut, der sich dann auf der Straße artikuliert – und stets Gefahr läuft, von rechter Demagogie vereinnahmt zu werden. Wie könnte eine bessere Beteiligung funktionieren? Die Politik muss absteigen vom hohen Ross, kann sich nicht damit begnügen, an Tagen der offenen Tür im Ministerium generös Fragen zu beantworten.
Mindestens einmal im Monat sollten Abgeordnete deshalb in ihrem Wahlkreis oder, wenn sie über Landeslisten im Parlament sitzen, an ihrem Wohnort verpflichtend eine öffentliche Debatte an der Basis absolvieren. Solche Foren ohne Denkverbote könnten sich zu diskursiven Gegenpolen entwickeln – und einen Handlungsmodus ablösen, der lediglich dekretiert und anschließend „erklärt“.
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