Cohn-Bendit zum 75. Geburtstag: Danke, Dany

Vom Anführer der gesellschaftlichen Revolte 68 zum populärsten Europapolitiker: Bei Cohn-Bendit kann man immer mit einem neuen Gedanken rechnen.

Porträt Daniel Cohn-Bendit

Happy birthday, Dany! Foto: Murat Tueremis

Ende Juni 1996 saß ich im Londoner Wembleystadion, als mein Telefon klingelte. „Dany hier“, sagte eine Stimme. Dann redete ein Mann eine Viertelstunde volle Pulle über die Fußball-EM und die taz und die Weltlage, und nachdem er endlich aufgelegt hatte, dachte ich: Was für ein Dany? Ich kenn’ gar keinen Dany.

So fing das an. Heute halte ich den deutschen Rekord im Führen von Cohn-Bendit-Interviews. Das wird jedenfalls behauptet und ist selbstverständlich als Kritik zu verstehen. Es liegt schlicht daran, dass man bei Cohn-Bendit immer mit einem neuen Gedanken rechnen kann. Und nicht immer, aber erstaunlich oft, sagt er als Erster das, was später zum Kanon wird.

Daniel Cohn-Bendit, der an diesem Samstag 75 wird, hat nicht den größten Respekt verdient, weil er die gesellschaftliche Revolte von 1968 auf den Barrikaden von Paris angeführt hat. Und nicht, weil er als Joschka Fischers Vorhut die Grünen in den 80ern und 90ern aus ihren Gegenwelten zu gesellschaftlicher Verantwortungsübernahme gebracht hat. Und auch nicht, weil er später zum populärsten EU-Politiker und der Verkörperung Europas geworden ist.

Den größten Respekt hat er, jedenfalls meinen, weil er ein außergewöhnlich freier und mündiger und lebensbejahender Mensch ist, der sich vor nichts und niemandem in die Hosen scheißt. (General De Gaulle schiss sich allerdings vor ihm in die Hosen.)

Nicht die Schnauze halten

Viele wissen das nicht, aber Nonkonformismus bedeutet nicht, dass man gemütlich die „anderen“ kritisiert. Es bedeutet, den „eigenen“ Leuten zu sagen, dass man anderer Meinung ist und warum. Und nicht immer für den nächsten Listenplatz die Schnauze zu halten.

Cohn-Bendit warb in den 1990ern bei den Grünen am vehementesten für humanistisch-militärische Nato-Interventionen in Bosnien und – zur Außenministerzeit von Joschka Fischer – im Kosovo. Um noch mehr ethnische Massaker zu verhindern. Das haben ihm manche Linksliberale bis heute nicht verziehen. Es war Verrat am Ideal des Pazifismus, das er zuvor geteilt hatte.

Doch weil seine Empathie für die von Vernichtung bedrohten Menschen größer war als dieses Ideal, hatte er den Mut und die Stärke, sich im Angesicht der Realität zu korrigieren. Überhaupt war er den Grünen in Sachen Mündigkeit immer um Jahre voraus, weil er näher an der Realität war als sie. Die notwendigen gesellschaftlichen Bündnisse, die Robert Habeck jetzt angeht, hat er schon als Sieger der Europawahl 2009 in Frankreich geschmiedet.

Woher er genau seine außergewöhnliche innere Freiheit und Souveränität hat, ist mir nie ganz klar geworden. Diese Lässigkeit, Geld auszugeben, ohne reich zu sein. Die Sicherheit, etwas ganz Wichtiges zu sagen, obwohl er noch gar nicht weiß, was er sagen wird.

In einen Topf mit Zaubertrank gefallen

Cohn-Bendit ist der zweite Sohn jüdischer Deutscher, die vor den Deutschen hatten fliehen müssen. Gezeugt in Südfrankreich in der Nacht, als die Alliierten 1944 in der Normandie landeten (jedenfalls behauptet er das gern). Privilegiert kann man das nicht nennen, aber er sah es immer so. Ist getragen von einem unerschütterlichen Glauben, als Kind in einen Topf mit Zaubertrank gefallen zu sein und darin immer wieder bestätigt zu werden. Während andere im Lauf des Lebens verhärten, hat seine Lust zu leben seine positiven Seiten gestärkt.

„Ich kann Geschichte machen, du kannst Geschichte machen“, das ist seine das Individuum feiernde Lebenserfahrung und gleichzeitig, dass ohne Politik nichts geht und unsere Zukunft auf parlamentarischen Kompromissen zwischen den Unterschiedlichen gebaut werden muss. In der jetzigen weltpolitischen Lage mit den mutmaßlich eskalierenden Krisen und der Aufgabe, die EU zukunftsfähig zu machen, wäre er der beste Bundespräsident, den wir nie haben werden.

In Paris saßen wir mal mittags vor einem Fischlokal, ein paar hundert Meter entfernt vom Grab Jean Paul Sartres. Da trat eine Frau an den Tisch und sagte, er, Dany, kenne sie nicht, aber sie wolle ihm einfach mal danken. „Wofür, Madame?“, fragte Daniel Cohn-Bendit.

„Ich möchte Ihnen dafür danken, dass Sie Sie sind“, sagte die Frau. Und das fasst es eigentlich ziemlich gut zusammen.

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