Demo-Saison für sexuelle Sichtbarkeit: Herrlich queerer Karneval
Im Umgang mit dem CSD zeigt sich meist die Offenheit einer Gesellschaft. Auch kleine Demos sind ermutigend für queere Communities in Autokratien.
Millionen machten am Wochenende beim CSD in New York City mit, naheliegender Weise aus Anlass des 50. Geburtstag der vom „Stonewall Inn“ in Greenwich Village (Manhattan) Ende Juni 1969 ausgehenden Straßenkämpfe. Das war sogar „Tagesschau“- und „Heute“-fähig, das Ereignis weckte das Interesse der elektronischen Medien. Gut so, das muss als Fortschritt in der Wahrnehmung der Redaktionen genommen werden.
Immerhin, eher nur lokal registriert, fanden auch CSD-Paraden in Schwerin und in Mainz statt: Es ist eben die Saison der „Sexual Otherness“, die Zeit der medialen Präsenzorganisation: „Queerness“ kann überall sein, das ist keine zentrale Demoangelegenheit, Schwules und Lesbisches und Trans*mäßiges braucht das Bewusstsein, bis ins letzte Dorf zu reichen. Ja, es sogar zu müssen: In jeder Stadt muss die abwegige Idee, das Leben spiele sich in den (einst) klassischen heteronormativen Bahnen nur ab, Schwules oder Lesbisches bleibe besser den Undergrounds vorbehalten, unterspült und getilgt werden.
Und wie das klappt, der Fortschritt ist zwar eine Schnecke, aber sie kommt trotzdem vom Fleck. In der Türkei – besser: In Istanbul – fand am Wochenende ebenfalls ein von der Polizei zunächst nicht mit Tränengas und Schlagstöcken verhinderter CSD statt. Sehr viele beteiligten sich, in Bezirken, in denen die AKP von Präsident Recep Tayyip Erdoğan nicht das Sagen hat, riefen sogar Politiker*innen zum CSD auf. Eine Woche zuvor wurde in der türkischen Stadt Izmir ein CSD von der Polizei zerkloppt, in der Hauptstadt Ankara waren queere Umzüge ebenfalls nicht erlaubt. Die queere Frage scheint aktuell die Scheidelinie zwischen offenen und autokratischen Formen von Politik und Gesellschaft zu markieren – nicht nur in der Türkei.
In einem CSD-Manifest heißt es: Vor 50 Jahren, ausgehend vom „Stonewall Inn“, sei der „Funke“ gesetzt worden: für den Kampf für ein „stolzes“ Leben, einen, „den wir für unsere Körper, unsere Wünsche, Rechte und unser Dasein führen“. Wie eine Kampfansage klingt dann auch diese Aussage: „Wir sind hier! Gewöhnen Sie sich daran – wir gehen nicht weg!“ Dass Erdogan und die Seinen den politischen Zenit überschritten zu haben scheinen, spielt dem Selbstbewusstsein der LGBTI*-Szenen (nicht nur) am Bosporus in die Hände: prima.
Sie zehren jedoch nicht allein von der politischen Lage in der Türkei, sondern auch von ihren LGBTI*-Freund*innen in aller Zeit, vor allem der reichen. Wer die queeren Szenen auch nur oberflächlich kennt, wer Freund*innen und Bekannte dort hat, weiß, wie couragiert deren Kämpfe sind – und wie stark sie darauf hoffen, dass CSDs in den queerpolitisch schon stabil freiheitlichen Ländern im Maßstab von Hunderttausenden, medial akkurat berichtet, weiter stattfinden. Wie jetzt in New York City, bald in Köln und Berlin, am nächsten Wochenende in London. Oder in Madrid, Paris oder Stockholm: Alle CSD-Paraden sind öffentliche Mega-Sichtbarkeiten – und sie sind gerade für queere Demos in Ländern wie der Türkei, Polen, der Ukraine oder Nordmazedonien extrem ermutigend. Gerade die CSD-Feste im Massenmaßstab sind direkte Botschaften an alle, die in Ländern leben, in denen es wenigstens kleine Spielräume fürs öffentliche Zeigen und Sich-sichtbar-Machen existieren.
Weshalb es gerade in Deutschland einen so gediegene Aversion gegen gutgelaunte, grelle, flamboyante und lebensfrohe CSDs gibt, von linker wie von queertheoretischer Seite, ist verblüffend ungeklärt. Im Interview von „Spiegel Online“ mit dem Historiker Rainer Nicolaysen heißt es in einer Frage zu den CSD-Umzügen, ob diese in Deutschland nicht etwas „Karnevaleskes“ hätten. Tja, haben sie das? Und wenn ja: So what? Als ob Demos unter Verdacht des Antipolitischen stehen, wenn sie nicht mehlig-grau daherkommen – und als ob die CSD-Manifestationskultur nichts mehr wert sein kann, wenn sie atmosphärisch nicht wie Straßenschlacht à la mode „Ende Gelände“ schmeckt und riecht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!