Debütroman von Christian Meyer: Bitte, bitte kein Sex
Klischees von Männlichkeit zu entkommen ist nicht einfach, schon gar nicht auf dem Dorf. Davon erzählt Christian Meyer in seinem Roman „Flecken“.
Was die „Herren der Schöpfung“ sein sollen, wissen wir aus Herbert Grönemeyers Song „Männer“ ganz genau: Sie baggern, sind furchtbar stark – und weinen heimlich. Auch wenn sie heute ihre verletzliche Seite mehr zeigen können, scheint dieses Stereotyp nur wenig an Geltung eingebüßt zu haben. Zumindest in der medialen Darstellung von Maskulinität. Noch immer präsentiert uns die Werbeindustrie Idealbilder vom athletischen Körper.
Wer sich indessen auf Dating-Apps umschaut, wird dort häufig auf den coolen und potenten Beschützer treffen. So weit zur spätmodernen Version des antiken Heros. Er brach in den frühen Epen auf, fand im Laufe der Kulturhistorie Einlass in die Abenteuerliteratur, gewann Gestalt in Figuren wie dem Freibeuter, dem tarzanhaften Wilden oder dem Liebhaber vom Schlage eines Don Juan.
Christian Meyer: „Flecken“. Voland & Quist, Berlin 2022, 300 Seiten, 24 Euro
Eine ganz besondere Blütezeit erfuhr der Held noch einmal in der Weimarer Klassik. Mit Wallenstein beschwor Friedrich Schiller einen gewiss zögerlichen, aber mithin archaischen Kriegsfürsten herauf. Und spätestens mit Johann Wolfgang Goethes Faust zog der Mythos des männlichen Schaffensdrangs in die Moderne ein, an den dann wiederum Autoren wie Ernst Jünger oder Stefan George anknüpften. So beeinflusste die Fiktion letztlich sukzessive die Entstehung patriarchaler Ikonen des 20. Jahrhunderts. Erst bildete sich der soldatisch-faschistische Typus heraus, wie ihn Klaus Theweleit einmal beschrieb, danach schließlich derjenige des neoliberalen Leistungsträgers.
Diese Vorgeschichte macht den Männern das Leben schwer
Dass diese Vorgeschichte den Männern das Leben schwermachen kann, offenbart sehr anschaulich der Debütroman „Flecken“ von Christian Meyer. Denn sein Protagonist widerspricht sämtlichen Klischees, vor allem weil er einen bislang in der zeitgenössischen Prosa kaum vertretenen Typus repräsentiert, nämlich den Asexuellen. Während seine Jugendfreunde längst geheiratet haben oder sich von einer Affäre in die nächste stürzen, ist Erik mit sich allein und mit seinen Schlagern von Andreas Gabalier glücklich.
Akzeptiert wird sein Dasein als Dauersingle jedoch kaum, wie er bei seiner Rückkehr in den titelgebenden Ort „Flecken“ bemerken muss. Allseits begegnen ihm skeptische Blicke, und ständig kommen die immer gleichen Fragen nach dem Beziehungsstatus auf. Mehr noch: Nach dem Suizid seiner einst besten Freundin, die ihr ganzes Leben vergebens starke Emotionen für Erik hegte, konfrontieren ihn viele Bewohner seines Heimatortes mit harschen Vorwürfen. War seine permanente Zurückhaltung in Sachen Liebe vielleicht gar der ausschlaggebende Grund für ihren Freitod? Hätte er nicht einfach „seinen Mann stehen können“?
Erik muss sich zu allem Überfluss also nicht nur mit dem Verlust von Neele auseinandersetzen, sondern zugleich gegen eine überkommene Geschlechterdogmatik ankämpfen: „Ich finde es ganz furchtbar, ein Mann zu sein. Oder besser, als Mann von dieser Gesellschaft gelesen zu werden – mit all den Erwartungen und Zuschreibungen. Es wäre schön, würde man Menschen einfach in die Schublade Mensch stecken, anstatt in die für Frau und Mann.“
Um die ersehnte Emanzipation von all den sozialen Projektionen zu untermauern, zitiert er überdies noch Judith Butler, die Vordenkerin des Postfeminismus: „Geschlechtlichkeit ist nichts, was man hat, sondern das, was man tut.“ Diese Praxis, sich selbst einen eigenen Entwurf zu geben, bedeutet für Erik, in die innere Opposition zur Gesellschaft zu gehen.
Antipode zum Mainstream
Trotz seiner kumpelhaften und altruistischen Art erweist er sich als Solitär und Antipode zum Mainstream. Zum einen gegenüber der heroischen Maskulinität, zum anderen gegenüber einer generellen Hypersexualisierung der Verhältnisse. Vornehmlich als Beobachter nimmt er die sexuellen Eskapaden seines Umfeldes wahr, die gerade auch bei Neele vergeblich dem Zweck dienten, die innere Leere auszugleichen.
Der Protagonist ist übrigens nicht frei von Unsicherheiten. „Gelassenheit ist Erik sehr wichtig. Mit der Gelassenheit kommt auch die Gleichgültigkeit. Und das ist für ihn Glück. Unglück auszublenden.“ Doch gerade Letzterem, das seine vermeintliche Selbstsicherheit zu gefährden droht, muss er sich in Flecken stellen, geraten doch mit dem Tod seiner Freundin zudem unheilvolle Familiengeheimnisse ans Tageslicht.
Dadurch legt der studierte Germanist und 1982 in Lüneburg geborene Meyer mehr und mehr Risse in seiner Figur frei und greift eine andere literaturgeschichtliche Linie auf als jene der Front-Kämpfer und Cowboys à la John Wayne.
Archetypisch scheint sie in der Empfindsamkeit und allen voran in Goethes Werther angelegt zu sein. Obgleich in ihm schon jener genialische Zug des romantischen Künstlers sichtbar wird, der ja wiederum keinen Raum für weibliche Kreativität gestattet, schimmert in ihm etwas Softes auf.
Weich und verletzlich
Der Mann wird weich und verletzlich und damit anfällig für Krankheiten und das Scheitern. Was sich in den Jahrhunderten danach abzeichnet, ist eine stete Demontage der Erfindung des virilen Helden. Man denke an Georg Büchners wahnsinnig werdenden Woyzeck oder an die schmächtigen Angestellten in Kafkas finsterem Romanuniversum.
Heute ist wiederum aus der einst als Schwäche verrufenen identitären Unklarheit ein Möglichkeitsraum für diverse Selbstbilder in der Prosa erwachsen. Thomas Meinecke oder Antje Rávik Strubel machen es vor. Queere und trans Figuren erhalten inzwischen in vielen Texten eine ungeahnte Aufmerksamkeit.
Christian Meyer deutet all diese Linien in seinem Buch nur vage an und spielt virtuos mit der Oberflächenästhetik des Dorfromans. Reichlich Situationskomik und absurder Witz bilden den Hintergrund für eine satirische Soziografie des Kleinbürgertums, das sich zwischen nostalgischer Schlagerlaune und nachmittäglichem „Bares für Rares“ vor den Krisen der Zeit flüchtet. Unter dieser Patina eröffnet sich allerdings ein tiefer liegender Raum. Dort werden wir existenzieller Gefühle der Einsamkeit, insbesondere vermittelt durch literarische Verweise, gewahr.
Zuneigung in Versen
Neben Annette von Droste-Hülshoff ziehen sich Zitate von Theodor Storm wie ein roter Faden durch den Roman. Mit dessen Worten bringt Erik seine Treue und ganz spezielle Zuneigung für Neele zum Ausdruck: „Ich bin mir meiner Seele / in deiner nur bewusst, / mein Herz kann nimmer ruhen / als nur an deiner Brust! / Mein Herz kann nimmer schlagen / als nur für dich allein. / Ich bin so ganz dein eigen, / so ganz auf immer dein.“
Dieses Poem des Realismus-Autors umfasst für den Protagonisten seinen Wunsch nach einer platonischen und somit gänzlichen unzeitgemäßen Liebe.
Derlei Passagen aus dem Œuvre des 1817 in Husum geborenen Schriftstellers eröffnen bewährt utopische Gegenwelten zum Hier und Heute. Nicht zuletzt die alles transparent machende Pornokultur lässt keine dunklen Zonen der Imagination mehr zu. Die Dichtung operiert hingegen mit inneren, immateriellen Bildern. Sie sind nicht greifbar und bergen daher einen Möglichkeitsüberschuss – eben für alternative Selbstentwürfe und Beziehungsmodelle jenseits einer heteronormativen und die Sexualität integrierenden Partnerschaft.
Aber nicht nur in dieser Hinsicht überschreitet der Roman Konventionen. Indem er stets zwischen den Tagen nach Neeles Tod und den Jahren der engen Freundschaft der beiden Protagonisten hin und her springt, hält er auch die Erinnerung und die Vergangenheit in der Gegenwart. Die Grenzen sind diesem psychologisch äußerst anregenden Werk allesamt offen, genauso wie die Herzen seiner Figuren, die eben nur in einem anderen Puls als jenem unserer Epoche schlagen.
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