Romandebüt von Dirk Gieselmann: Legende von der Einsamkeit

Realitätsflucht als Überlebenstechnik: Bildet „Der Inselmann“ von Dirk Gieselmann über eine Kindheit in der DDR die Gegenbewegung zur Autofiktion?

Eine Insel mitten im Meer an einem bewölkten Horizont

Auch Robinson Crusoe brachte viel Zeit auf einer Insel zu Foto: Stephen Shepherd

Recht genau in der Mitte dieses Romans beschließt Hans Roleder, die Schule zu schwänzen. Diesen Jungen, zehn Jahre alt ist er zu Beginn, als Hauptfigur des Buches zu bezeichnen, wäre noch untertrieben. Er ist im Grunde die einzige Figur, alle anderen Personen werden allein aus seiner Sicht und auf ihn hin beschrieben.

Wo und wann der Roman spielt, weiß man dabei gar nicht genau. Manches – ein Hund wird in den Weltraum geschossen, Menschen überwinden eine Mauer – spricht für die frühen sechziger Jahre im Norden der DDR. Doch darauf kommt es gar nicht an. Es kommt nur auf Hans Roleder an und auf seine Einsamkeit.

Die erste Hälfte des Romans handelt davon, dass Hans mit seinen Eltern auf eine Insel zieht. Die Insel liegt in einem großen See. Beim Lesen entwickelt man unterschiedliche Eindrücke davon, wie weit sie vom Ufer entfernt ist. Zunächst wirkt sie weit entfernt, fast unerreichbar; nur alle paar Monate kommt ein Fährmann mit Nahrungsmitteln herüber. Irgendwann wird aber auch klar, dass man in einer guten Stunde hinüberrudern kann. Als Hans zur Schule gehen muss, ist das sein täglicher Weg.

Halb verwilderter Hund

Mehr passiert zunächst eigentlich gar nicht. Hans und seine Eltern ziehen in der alten Hütte auf der Insel ein, kümmern sich um die Schafherde, die dort grast, ein halb verwilderter Hund freundet sich mit Hans an. Und zwischendurch wird in einer Rückblende das vorherige Leben der kleinen Familie in der Stadt beschrieben. Ein armes Leben. Mühsal und schlimme Mitmenschen. Schweigsame Eltern. Eine unfrohe Welt. Der Umzug auf die Insel ist auch eine Flucht.

Dirk Gieselmann: „Der Inselmann“. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2023, 172 Seiten, 20 Euro

Mit dem Schuleschwänzen könnte die Handlung jetzt noch einmal Fahrt aufnehmen. Hans Roleder könnte jugendliche Abenteuer erleben, Menschen treffen, gute und böse, Orte entdecken. Das Buch könnte sich vom Außenseiterroman, der es bis dahin ist, zum Ausreißerroman entwickeln. Das könnte ganz schön sein. Als Le­se­r*in wäre man auch auf vertrautem Terrain, Tom-Sawyer-Vibes könnten entstehen. Doch so wird es nicht kommen.

Der Autor Dirk Gieselmann, der bisher vor allem journalistisch gearbeitet hat und mit dem „Inselmann“ jetzt seinen Debütroman vorlegt, hat genau dafür ein großes Talent: Geschichten aufblitzen zu lassen, sie anzureißen, vor dem inneren Auge der Le­se­r*in schon aufflackern zu lassen – und sie dann aber eben nicht auszuführen.

Auf einem Ruderboot versteckt

Denn was macht dieser Hans Roleder, statt zur Schule zu gehen? Er reißt keineswegs aus. Er versteckt sich nur auf einem Ruderboot im Schilf des Sees, eine Woche lang während der Schulstunden. Gieselmann beschreibt das so: „Eine Böe kam heran, das Wasser wurde kraus, dann war die Böe bei Hans, strich ihm durch sein Haar und war schon wieder fort. Die Blätter in den Bäumen rauschten mit Verspätung. Hans nahm alles wahr. Eine Ameise erklomm jetzt seine Schulter, versprengte, kühne Heldin eines Trupps. […] Dann machte er ein Schläfchen.“

Windböen, Blätterrauschen, Ameisen. Wieder: Mehr passiert erst einmal nicht. Bis nach einer Woche der Schulmeister, den Gieselmann als bösen Mann eher karikiert als schildert, mit einem Polizisten auf die Insel gerudert kommt und Hans mitnimmt. Das wird ganz knapp beschrieben. Beim Lesen dieser Szene hat man Comicbilder im Kopf, vom traurigen Hans, der sich am liebsten in den See stürzen würde, und vom übermächtigen Schulmeister, der auf einmal viele Arme zu haben scheint.

Hans kommt in eine Besserungsanstalt im Moor, „die Burg“ geheißen. Und was macht Hans da? „Wenn er die Augen schloss, dann sah er Farben, die es im Moor nicht gab. Dann nahm er alles wieder wahr. Die Insel, er vergaß sie nicht, sie wurde immer schöner. Er sah die Sonne in den Blättern funkeln, er selbst rücklings auf der Wiese. […] Er sah das Glitzern auf dem Wasser in der Nacht bei Vollmond. Er wusste auch noch, wie Harz am Stamm der Tanne roch.“

Sehnsucht nach Kargheit

Wieder Naturwahrnehmungen, diesmal wie geträumte. Dieser Übergang von der realen Naturschilderung zur imaginierten (und zurück) ist eine Kernbewegung dieses Romans. Irgendwann weiß man gar nicht mehr, ob es die reale Insel in all ihrer Kargheit ist, die sich zum Sehnsuchtsort für Hans entwickeln wird, oder die geträumte Insel. Am Anfang wird klar, dass seine Eltern Hans mit auf die Insel zwingen; am Schluss wird er freiwillig allein auf ihr bleiben. Reale Abgeschiedenheit und imaginierte Innerlichkeit gehen als Zufluchtsorte ineinander über.

Die Sprache muss in diesem Buch einiges leisten, sie muss in diesen oft nur angerissenen, manchmal wie hingetupften Szenen die Nähe zu Hans herstellen. Dirk Gieselmann versucht das mit eindringlichen, oft wie geschnitzt oder gedrechselt wirkenden Sätzen. Auf manche Sätze legt er dabei zu viel Druck. „Es war so kalt, dass selbst der Wind fror“, lautet gleich der erste Satz. Später heißt es irgendwann: „Merkt der See, dachte Hans, wenn ich in ihn weine?“ Das sind sentimentale, zu dick aufgetragene Stellen.

Es gibt aber auch großartige Sequenzen. Wie, ganz kurz nur, der Einbruch der Schafskälte beschrieben wird, wie der verwilderte Hund auf der Insel langsam wieder zutraulich wird, wie am Schluss des Buches die Zeit auf der Insel ins Rutschen kommt und aus Tagen Jahre werden, das ist schon wirklich gut beschrieben.

Hart an der Naivität vorbei

Immer wieder kann Dirk Gieselmann auch einen Legendenton herstellen, der hart an der Naivität vorbei auf Wahrhaftigkeit zielt. Wie Schattenrisse kommen einem manche Szenen vor, aber doch gleichzeitig auch so, dass sie im Kopf der Le­se­r*in Farben und Volumen annehmen. Dann ist es, als könne der Text die Einsamkeit selbst zum Sprechen bringen. Und es wird klar, dass sich aus der Realität jenseits der Insel herauszuziehen, für diesen Hans eine Überlebenstechnik darstellt.

Insgesamt dreht sich der Roman schließlich in eine Flucht hinein, in eine Flucht nach innen und auf die Insel. Mit der übrigen Welt will Hans Roleder irgendwann nichts mehr zu tun haben. Eskapistisch kann einem dabei aber auch der Roman selbst irgendwann vorkommen. Mögliche Anschlüsse an gängige Dramaturgie oder aktuelle Themen scheint es jedenfalls geradezu zu verweigern.

Einmal, als Hans aus der „Burg“ wieder entlassen ist, nimmt ihn eine Frau, Irma, mit zu sich nach Hause. „Kommst du mit rein? – Ich weiß nicht. – Aber ich. Na, komm.“ Aber schon vier Sätze weiter schleicht sich Hans wieder aus dem Zimmer.

Holzschnittartige Figurenzeichnung

Vor allem aber sind die Gegenfiguren des Romans – der mürrische Vater, der „Mettwurstjunge“ genannte Sohn des Schlachters, der Hans schlägt, der Schulmeister, der Aufseher in der Besserungsanstalt – so holzschnittartig gezeichnet, dass reale gesellschaftshistorische Bezüge (es wurde ja tatsächlich mit Menschen so umgesprungen) zwar aufflackern, aber auch nicht weit führen.

Dass einen dieses leise – im Leisesein dann aber wieder auch recht laute – Buch, das eine interessante Mischung aus Demut dem Schicksal von Hans gegenüber und Selbstbewusstsein in Bezug auf die Möglichkeiten der Erzählsprache aufweist, so auffallen kann, hat aber trotz allem Eskapismus womöglich dennoch etwas mit der Gegenwart zu tun, mit dem Trend zur Autofiktion nämlich. Die Frage ist, ob es nicht eine Gegenbewegung dazu versucht.

Argumente in diese Richtung ließen sich finden. Statt konkrete Bilder, Erinnerungen und gesellschaftliche Verhältnisse erzählerisch abzuklopfen, dreht der Roman sich ins Zeit- und Ortlose hinein – „vielleicht geschieht es heute, gerade jetzt. Vielleicht ist es niemals geschehen oder wird noch geschehen“, heißt es einmal. Außerdem zielt nichts an dem Buch auf Analyse gesellschaftlicher Verhältnisse. Oder, wenn man denn so will, höchstens in dem pauschalen Punkt, dass die Realität als so traumatisch erfahren wird, dass die Szenen noch nicht einmal genau hingucken mögen.

Im Schatten der Machtverhältnisse

Doch mit einem Ansatz wie dem, hier eine Gegenbewegung zur Autofiktion wahrzunehmen, beschwert man dieses in vielem dann eben doch auch leichte Buch allzu sehr. Und womöglich wäre sogar eher von einer Komplementärbewegung zu sprechen: Der Roman kann einem wie der Schatten der gegenwärtigen Bücher vorkommen, die sich ganz direkt mit Macht- und Geschlechtsverhältnissen auseinandersetzen.

Stattdessen lassen sich aber auch zwei Gründe benennen, diesen Roman gut zu finden, einen fragwürdigen und einen guten Grund. Der fragwürdige: Er triggert die Sehnsucht nach dem Lesen als Möglichkeit des Rückzugs an. Identifikation mit Hans kommt zwar nicht auf. Aber schon große und manchmal eben auch erzählerisch erpresste Nähe. Man möchte diesen Hans eigentlich die ganze Zeit während des Lesens in den Arm nehmen. Das Inselmotiv mit seinen Wallungswerten von Echtheit und Erlösung tut ein Übriges.

Der gute Grund: Der Roman ist in sich ungeheuer konsequent. Er spielt den Wunsch, herauszutreten aus der Gesellschaft, ja, aus der Wirklichkeit, so eindringlich durch, dass gängige Landfluchtromane dagegen blass wirken. Und er erwischt auch einen Moment des Atemholens in diesen Debatten- und, nicht zu vergessen, Kriegszeiten.

Man sollte den Roman wohl wirklich nicht allzu sehr beschweren. Insgesamt erscheint er wie ein einziger Seufzer. Man liest ihn, atmet tief durch und kann sich dann wieder der Gegenwart zuwenden.

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