Debütroman über Aufwachsen in Südtirol: Wenn Wörter hässlich machen
Maddalena Fingerles Debütroman „Muttersprache“ kreist um eine scheinbar bilinguale Welt. Ihr Protagonist leidet vor allem an dreckigen Wörtern.
„Je mehr dreckige Wörter du in dir hast und aussprichst“, verlautet Paolo Prescher, der schillernde Protagonist aus Maddalena Fingerles Debütroman „Muttersprache“, „desto hässlicher bist du.“ Paolo Prescher leidet an sich und der Welt, von der er in radikaler Subjektivität erzählt: seiner Mutter, die nichts als Floskeln auf Lager habe, seinem Vater, der Aphasiker sei und gar nicht rede, und seiner Heimatstadt Bozen, die sich in ein falsches Gewand der Zweisprachigkeit kleide.
„Aber ganz ehrlich, das stimmt gar nicht, dass wir Deutsch in der Schule lernen. Fast keiner in unserer Schule kann Deutsch, weil wir, ja genau wir, die deutsche Sprache ätzend finden, und auch wenn wir sie sprechen würden, dann könnten wir sie gar nicht benutzen, weil man hier im Dialekt spricht“, und den Dialekt, lernt Paolo von seinem Freund Jan, „konnsch net oanfoch so learnen, woasch? Des isch die Sproch von deine oagene Leit.“
Zu seiner Schulzeit, erinnert sich der Moderator Jan Wasserfuhr in einem Gespräch mit der Autorin Maddalena Fingerle in Berlin, seien die Pausenpläne so getaktet gewesen, dass sich die italienischen und deutschen Schüler*innen nicht begegneten, denn: „Je besser wir trennen, desto besser verstehen wir uns.“ Südtirol, das sich gern als Schnittstelle zweier Kulturen verkauft, in Wirklichkeit jedoch Sprachgruppenzugehörigkeitserklärungen verlangt, ist jedoch nicht die einzige Nuss, die Paolo Prescher in „Muttersprache“ zu knacken hat.
Auch das Klassische Lyzeum, in Italien ein gern aus dem tadellos gebügelten Hemdsärmel geschütteltes Ass und Aushängeschild für umfassende Allgemeinbildung, kommt kläglich bei ihm weg: „Es stimmt gar nicht, dass man die Klassiker liest am Klassischen Lyzeum. Nichts liest man bis zur letzten Seite am Klassischen Lyzeum, und man liest nichts wirklich am Klassischen Lyzeum.“
Maddalena Fingerle: „Muttersprache“. Aus dem Italienischen von Maria Elisabeth Brunner. Folio Verlag, Wien 2022, 192 Seiten, 22 Euro.
Dreckiger Kontext
Vielmehr sei Förderer*innen der Kultur daran gelegen, „einen Kontext herzustellen. In Bozen funktioniert es so: in Bozen stellt man einen Kontext her, man stellt immer für alles einen Kontext her, man stellt ständig einen Kontext her und man macht alles dreckig.“ Paolo Prescher, dem nichts mehr zuwider sein könnte als jene faule, verrottete Sprache, die all die Dinge, die sie nicht versteht, als „suggestiv“ oder „besonders“ bezeichnet, zieht in Zweifel, was wir jeden Tag, ohne groß darüber nachzudenken, hinausposaunen.
Paolo sieht genau hin, betrachtet die Wörter, dreht und wendet sie, um mehr und anders zu verstehen: „Wenn du die Wörter auseinandernimmst und die Buchstaben anschaust, dann sagen sie dir die Wahrheit. Die Buchstaben, wenn du sie dir nur genau genug anschaust, sind ehrlich, und sie verraten dir die Geheimnisse.“
Kann es zum Beispiel Zufall sein, dass das italienische Wort für Mutter, madre, die exakt selben Buchstaben wie das italienische Wort für Scheiße, merda, aufweist? Paolo meint nein und verurteilt die Leute, die sich selbst „Kreative“, Kinder „Kreaturen“ und die Kacke des Hundes „Bedürfnis“ nennen: „Freiheit ist ein Bedürfnis des Hundes. Natur ist ein Bedürfnis des Hundes. Zuneigung ist ein Bedürfnis des Hundes. Doch die Kacke echt nicht. Die Kacke heißt Kacke. Bedürfnisse heißen Bedürfnisse.“
Die Gleichschaltung der Gesten und Wörter, ihre unhinterfragte Hinnahme beklemmen ihn: „Die Zeremonie jagt mir Angst ein, die Wörter, die ich höre, die Selbstverständlichkeit, mit der alle das exakt Gleiche machen, jagt mir Angst ein, im selben identischen Augenblick, und ich spüre, dass sie Verbündete sind, ihnen ist eben gar nicht bewusst, wie gesteuert sie sind, von irgendetwas, es jagt mir auch Angst ein, wenn wir in der Schule aufstehen müssen, weil die Lehrerin hereinkommt, und mir kommt vor, ich bin ein Soldat.“
Angst vor der Mehrheit
Paolo Prescher möchte sich der Homogenität entziehen, nicht in die Mehrheit übergehen, anders reden, sich anders bewegen, verzögert, verschoben, verrückt, „um nicht Teil der Masse zu sein, die sich bewegt wie eine Welle im Gleichklang, bereit zu allem“. Die Welt verschmutzt Paolo die Wörter, die ihm Versicherung sind, eben weil sie, anders als die Menschen, sagen, was sie sind: „Ich kann nicht mehr Italienisch reden, ich muss andere, weniger dreckige Sprachen benutzen.“
Paolo löst sein Glücksversprechen ein in Berlin, wo der italienische Teil in ihm drinnen redet und der deutsche draußen, die Rollen klar getrennt. Vielleicht, vermutet Paolo, haben in seinem Namen immer schon zwei Personen gesprochen, eine drinnen und eine draußen, „und nicht immer haben sie dasselbe gesagt.“
Wenn er Deutsch spreche, sei er entspannter, und auch seine Stimme sei anders, „fast wie die Stimme einer anderen Person“. Es ist die Frage, die auch in Sprach- und Literaturkursen immer wieder diskutiert wird: Ist man, je nachdem, in welcher Sprache man spricht, oder, vielleicht auch, in welcher Sprache man liest, ein*e andere*r? Und worin genau besteht dieses Andere?
In Muttersprache wird man als Lesende*r das Gefühl nicht los, es in der Übersetzung von Maria Elisabeth Brunner mit einem anderen Paolo zu tun zu haben: einem weniger dynamischen, minder drängenden, unschärferen Kerl.
Und spätestens, wenn Paolos Erzählerstimme in der deutschen Übersetzung wiederholt von „dreckige[n] Wörter[n]“ („parole sporche“) spricht, und man wiederholt darüber stolpert und sich im Kopf sagt, dass es schmutzige Wörter heißen müsste, dass man fest davon ausgegangen war, dass es schmutzige Wörter heißen würde, weiß man, welchen (oft unterschlagenen) Stellenwert die Übersetzung eines literarischen Werks einnimmt.
Anhang sorgt für Irritation
Leider scheitert die deutsche Ausgabe dieses mitreißenden Debüts daran, Paolos Ideen bis in die Buchgestaltung hineinzutragen, indem auch sie einen Kontext herstellt: Jede einzelne literarische Referenz wird im Anhang ausklamüsert, ebenso wie die Anagramme der Figurennamen, gerade so, als wäre es zu viel verlangt, Leser*innen heute über Houellebecq-, Tasso- oder Marino-Zitate stolpern zu lassen.
Im schlimmsten Fall – und wäre dieser wirklich so schlimm? – fallen sie nicht auf, werden die intertextuellen Verweise schlicht überlesen. Dieses Risiko sollte eingegangen werden, wenn die Alternative bedeutet, Leser*innen wie Unmündige an der Hand zu halten.
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