Debatte um sexualisierte Gewalt im Film: Besser als Butter
In jedem achten Hollywoodfilm wird eine Frau vergewaltigt. So auch Maria Schneider in Bertoluccis „Der letzte Tango in Paris“. Was tun?
D ie Butterszene kannte ich lange, bevor ich zum ersten Mal den Film „Der letzte Tango in Paris“ gesehen hatte. „Wie wäre es mit Butter?“ war, als ich anfing, Sex zu haben, ein Synonym für „Möchtest du Analsex?“. Inzwischen ist „Butter“ eher ein Synonym für Vergewaltigung – oder zumindest sexuelle Nötigung – im Kino.
Rückblende: Paul (Marlon Brando) benutzt ein Stück Butter, um seine Filmpartnerin Jeanne (Maria Schneider) anal zu vergewaltigen. In der Realität nutzten Brando und Bernardo Bertolucci, der Regisseur von „Tango“, die Butter zwar nicht, um in Schneiders Körper einzudringen, wohl aber in ihre Psyche. Die Szene stand nicht im Drehbuch und Schneider erfuhr erst in letzter Sekunde davon. Sie hatte also keine Möglichkeit mehr, zu protestieren.
Der Gedanke, dass Schauspieler besonders überzeugend wirken, wenn sie die dargestellte Situation auch wirklich erleben – besser bekannt unter dem Namen Method Acting –, war weit verbreitet und galt keineswegs als anstößig.
Höchstens als etwas manieriert: So bereitete sich Dustin Hoffman auf seine Rolle in „Marathon Man“ mit Schlafentzug vor und kam zerrüttet in L.A. an, wo ihm der britische Schauspieler, Regisseur und Produzent Laurence Olivier den berühmten Tipp gab: „My dear boy, wie wäre es stattdessen mit Schauspielern?“
Traumatisiert
Tatsächlich war die Butterszene so überzeugend, dass Schneider Bertolucci danach hasste und 2007 in einem Interview erklärte, sie hätte sich „ein wenig vergewaltigt“ gefühlt. Das Interview ist instruktiv, weil es kaum Beachtung fand, aber auch in Bezug darauf, wie es weiterging, nachdem die Szene „im Kasten“ war.
Was macht man, wenn sich eine brillante Idee als brillanter Reinfall herausstellt? Richtig, man ignoriert das Problem und unterlässt jede Form von Hilfeleistung. Vielleicht aus schlechtem Gewissen? Vielleicht weil Brando und Bertolucci selber verstört waren? So soll auch Marlon Brando von den Dreharbeiten traumatisiert gewesen sein. Wir wissen es nicht.
Die Frau: Mithu M. Sanyal, geboren 1971 in Düsseldorf, ist Kulturwissenschaftlerin, Autorin und Journalistin.
Die Bücher: Im August erschien ihr Buch "Vergewaltigung. Aspekte eines Verbrechens", Nautilus Flugschrift. Ihr Buch "Vulva" wurde bislang in fünf Sprachen übersetzt.
Was wir wissen, ist, dass Bertolucci 2013 in der Cinémathèque française zu Schneiders Interview Stellung bezog und auch das kaum Aufmerksamkeit erregte – bis das Gespräch vor drei Wochen auf Facebook gepostet wurde und viral ging.
Was finde ich daran am traurigsten? Dass Schneider nicht geglaubt wurde, bis Bernardo ihre Geschichte bestätigte? Durchaus. Aber auch, dass es sein Eingeständnis war, dass er sich noch immer schuldig fühlt, das den Shitstorm auslöste. Was wäre passiert, wenn er sich nicht schuldig gefühlt hätte? Wahrscheinlich herzlich wenig. Für die Butterszene wurde er berühmt, aber für die menschliche Reaktion, sich schuldig zu fühlen, weil er einen anderen Menschen nachhaltig verletzt hatte, erntet er Verachtung.
Das heißt natürlich nicht, dass wir jetzt alle um Bertolucci weinen müssen, weil ihn die ganze Sache so sehr belastet. Darüber hinaus erklärte er in dem selben Gespräch, dass er nach wie vor aus „künstlerischen“ Gesichtspunkten hinter seiner Entscheidung stünde, weil er Schneiders Reaktion „as a girl not as an actress“ wollte. Dass ihre „echte Wut“ und „echte Erniedrigung“ ihm wichtiger waren, als sie nicht zu erniedrigen.
Bauernopfer
Trotzdem finde ich, dass die Diskussionen, ob wir jetzt nie wieder Bertolucci-Filme schauen sollten, an der Sache vorbeigeht. Erstens ist es selten hilfreich, ein Exempel zu statuieren, und zweitens wäre Bertolucci lediglich ein Bauernopfer, das den Umgang der Filmindustrie mit Vergewaltigung keineswegs ändern würde.
Was ich mir wünsche, ist ja eine Auseinandersetzung. Und wenn jemand reflektiert – was Bertolucci anscheinend tut, wenn auch nicht mit dem Ergebnis, das ich mir wünschen würde –, dann möchte ich diese Chance nutzen.
Denn es ist keineswegs so, dass Vergewaltigung im Kino ansonsten eine glorreiche Geschichte hätte. Das erste Mal, dass in einem Mainstream-Hollywoodfilm – nachdem der puritanische Hays Codes nahezu jede Sexualität verboten hatte – wieder eine nackte Brust gezeigt werden durfte, war in „Der Pfandleiher“ von 1964.
Dass die Szene an der Zensur vorbeikam, lag daran, dass sie im Kontext einer Vergewaltigung stattfand – und noch zynischer: einer Vergewaltigung in einem Konzentrationslager.
Gewalt sells
Ging es dem Regisseur um die Darstellung der Schrecken des Faschismus? Ja. Aber in der Szene ging es ihm in erster Linie um die Brust. Sonst hätte er sie genauso gut von hinten filmen können, wie seine Kameraleute vorschlugen. Sex sells und Gewalt ebenso.
Als ich 13 Jahre alt war, waren die sexysten Frauen im deutschen Fernsehen Vergewaltigungsopfer mit ihren zerfetzten roten Kleidern und riesigen Pupillen. Mag die Aussage eines Films noch so sehr sein, wie schrecklich Vergewaltigung ist, die Bildsprache sagt etwas anderes. Deswegen ist es so schwierig, Antivergewaltigungsfilme zu drehen.
Erst im Oktober sorgte der Aufklärungs-Spot „Stop Rape“ – der Landesarbeitsgemeinschaft der kommunalen Frauenbeauftragten Baden-Württembergs in Kooperation mit der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Gestaltung Konstanz – für Proteste. Darin ging es mit bestem Wissen und Gewissen um Aufklärungsarbeit.
Das Filmteam bestand aus mehr Frauen als Männern, die dargestellte Vergewaltigung fand nicht in einer dunklen Seitenstraße, sondern in der taghellen Küche des Opfers statt. Trotzdem unterschied sich das Ergebnis visuell nicht wesentlich von der Butterszene im „Letzten Tango“.
Blick auf die Täter
Zahlreiche Kinogänger*innen empfanden den Spot, der ohne Vorwarnung im Werbeblock gezeigt wurde, als (re)traumatisierend. Als er kurz darauf zurückgezogen wurde, fragte mich eine Interviewerin, wie ich ihn denn gedreht hätte. Die Antwort bin ich – mit Ausnahme des grundsätzlichen Wunsches, den Blick der Kamera nicht auf das Opfer, sondern auf den/die Täter*in zu richten – noch immer schuldig.
Vielleicht geht es gar nicht um die Frage der „besseren“ oder der „richtigen“ Darstellung von Vergewaltigung im Film, sondern darum, zu reflektieren, warum wir mit einförmiger Regelmäßigkeit Vergewaltigungsszenen zeigen, als gäbe es nicht genügend andere Möglichkeiten, Drama zu erzeugen. Denn dadurch, dass wir eine Vergewaltigung zeigen, reproduzieren wir sie – zumindest auf der visuellen Ebene.
Ich würde Bertolucci gerne fragen, ob eine Frau sexuell zu demütigen wirklich die originellste Idee war, auf die er kommen konnte? Oder ob es vielleicht künstlerisch aufregendere Wege gegeben hätte, um das komplizierte Verhältnis der Hauptfiguren zueinander darzustellen?
Laut der Historikerin Joanna Bourke schmückt sich – und ich benutze das Verb bewusst – jeder 8. Hollywoodfilm mit einer Vergewaltigungsszene. Nun ist es natürlich richtig und wichtig, Vergewaltigung nicht totzuschweigen. Genauso wichtig ist allerdings, nicht so zu tun, als wäre Vergewaltigung nun mal Teil des Repertoires menschlicher Umgangsformen.
Der Sanyal-Test
Deshalb schlage ich analog zu dem Bechdel-Wallace-Test (der anhand von drei simplen Fragen überprüft, ob weibliche Figuren in Filmen stereotypisiert werden: 1. Gibt es mindestens zwei weibliche Rollen? 2. Sprechen sie miteinander? und 3. über etwas anderes als einen Mann?) den Sanyal-Test vor (oder wegen mir auch den Sanyal-Butter-Test), der ebenfalls drei Fragen stellt:
1. Gibt es in dem Film eine Vergewaltigung (oder mehrere)?
2. Ist diese für die Handlung nicht unbedingt notwendig, sondern lediglich eine Chiffre dafür, dass eine Figur eine emotional aufgeladene (Back-)Story hat?
3. Gäbe es eine originellere Möglichkeit, den Plot voranzutreiben?
Wenn die Antwort auf diese Fragen Ja lautet, sollte die Szene aus dem Filmskript gestrichen und stattdessen kreativer nachgedacht werden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Entlassene grüne Ministerin Nonnemacher
„Die Eskalation zeichnete sich ab“
Repression gegen die linke Szene
Angst als politisches Kalkül