Debatte um Kindergeld für EU-Ausländer: Bigotterie der Mittelschicht
Billige Arbeit immer gerne, Sozialleistungen aber nicht: Im Streit um das Kindergeld wird eine bigotte Osteuropa-Aversion befeuert. Eklig.
Die Bigotterie der deutschen Mittelschicht ist auffällig: Wenn es um billige Pflegerinnen, um günstige Handwerker geht, dann kommen osteuropäische Arbeitskräfte gerade recht. Aber bei Sozialleistungen wird schnell Betrug unterstellt.
Die Debatte fing mit einem Fall überschaubaren Fall von Sozialmissbrauch an: In Nordrhein-Westfalen taten sich die Familienkassen mit den Meldeämtern zusammen und überprüften Kindergeldanträge in sogenannten Verdachtsfällen. In Düsseldorf und Wuppertal überprüfte man unter anderem die Anträge von EU-Ausländern, die sich in auffällig großer Zahl in bestimmten Wohneinheiten angemeldet hatten, die als „Schrottimmobilien“ bekannt waren, erklärte ein Sprecher der Bundesagentur für Arbeit der taz.
In 40 dieser 100 Verdachtsfälle stellten die Ermittler tatsächlich Betrugsversuche und Fälschungen von Geburtsurkunden fest- nicht ungewöhnlich für Sozialfahnder, die sich auf randständige Milieus konzentrieren. Das bedeutet aber nicht etwa eine Betrugsquote von 40 Prozent, schließlich waren die Verdachtsfälle zuvor schon keine Stichprobe gewesen, sondern gezielt ausgewählt worden, betont der Sprecher. In diesen Betrugsfällen wurde auch nicht Kindergeld für im Ausland lebenden Nachwuchs beantragt, sondern die Familien gaben an, komplett hier zu leben, nur legten sie eben teilweise gefälschte Geburtsurkunden vor, erläutert der Sprecher.
Soweit handelt es sich um möglicherweise organisierten Sozialmissbrauch, aber im kleineren Rahmen. Die bundesweite Medienhatz gegen „Kindergeld für EU-Ausländer“, die darauf folgte, hat allerdings mit der festgestellten Kriminalität aus Nordrhein-Westfalen sachlich nichts mehr zu tun.
Gleichzeitig nämlich veröffentlichte das Bundesfinanzministerium Zahlen über Kinder von EU-Ausländern, für die ein in Deutschland lebender Elternteil Kindergeld bezieht, obwohl der Nachwuchs im Heimatland lebt. Diese Zahl ist innerhalb eines halben Jahres um zehn Prozent auf 268.336 Kinder gestiegen, eine „Rekordzahl“ meldeten die Agenturen, so als handele es sich um ein besonderes Phänomen.
Dabei ist dank des Wirtschaftsbooms auch die Beschäftigung von EU-Ausländern in Deutschland gestiegen, die Zunahme der Kindergeld-Empfänger für den Nachwuchs im Heimatland kommt daher nicht unerwartet. Im übrigen beträgt das für diese Kinder gewährte Kindergeld nur etwa ein Prozent des gesamten Kindergeldes, das in Deutschland gezahlt wird. Und diese Zahl betrifft eben Kinder, die im Heimatland leben – darum aber ging es in den aufgedeckten Betrugsfällen in Düsseldorf und Wuppertal wiederum gar nicht.
Indexierung ist nicht EU-Recht-konform
Die aufkeimende Debatte um den angeblich massenhaften Sozialmissbrauch des deutschen Kindergelds durch Osteuropäer wurde in den Medienberichten mit einem anderen, älteren Streit vermischt: Es geht um die Frage, ob das in Deutschland gezahlte Kindergeld nicht niedriger ausfallen könnte, wenn der Nachwuchs nicht in Deutschland, sondern im Heimatland aufwächst, wo der Lebensstandard in der Regel niedriger ist. 194 Euro Kindergeld bekommt man in Deutschland für das erste Kind. Das ist viel mehr als etwa die 18 bis 43 Euro, die es in Rumänien an Kindergeld gibt.
Im Steuerrecht gibt es diese „Indexierung“ an die Lebenshaltungskosten bereits, in sogenannten Ländergruppeneinteilungen. Das heisst, wer hier lebt, aber für einen Angehörigen in Polen Unterhalt zahlen muss, kann nur etwa die Hälfte der Summe an Unterhaltskosten von der Steuer abziehen als wenn sein Ex-Partner auch in Deutschland leben würde.
Die Bundesregierung hatte schon in der vergangenen Legislaturperiode versucht, auch die Kindergeldzahlungen an die Lebensverhältnisse in den jeweiligen Ländern anzupassen. Brinkhaus erklärte am Freitag, man werde weiter daran arbeiten, die erforderliche Unterstützung für eine Indexierung zu bekommen. Es sei aber schwierig, dafür eine Mehrheit in Brüssel zu gewinnen. Die EU-Kommission ist gegen eine solche Indexierung und hält sie nicht mit EU-Recht vereinbar. Auch die Grünen sprachen sich am Freitag gegen eine Anpassung des Kindergeldes aus. Der Vorschlag sei „falsch und nach deutschem Recht kaum umsetzbar“, sagte Parteichefin Annalena Baerbock.
Eine Indexierung bedeutete letztlich eine Lohnkürzung für viele EU-Ausländer in Deutschland. „Wir haben in Europa längst einen Wettbewerb um Arbeitskräfte“, sagt Tomasz Major, Präsident der polnischen Arbeitgeberkammer, „Deutschland spielt da nicht mehr die erste Rolle. Aber das Kindergeld macht Deutschland attraktiv“. Die fast 200 Euro pro Kind wirkten wie ein Lohnzuschlag, erklärt Major. Würde man diese Summe halbieren, wäre das eine Lohnkürzung um 100 Euro. „Die deutsche Wirtschaft profitiert letztlich vom Kindergeld“, so Major, „das sollte man sich sorgfältig überlegen, ob das gut wäre, wenn man da kürzte“.
Deutsche Mittelschicht profitiert
Die deutsche Mittelschicht lebt ansonsten sehr gut vom Wohlstandsgefälle zwischen den Ländern. Pflegerinnen aus Polen versorgen Hochbetagte in Deutschland, während der eigene Nachwuchs zuhause bei der Großmutter aufwächst. In Pflegeheimen oder in der Bauwirtschaft würde der Betrieb ohne die Fachkräfte aus dem EU-Ausland zusammenbrechen. Nur in der Frage der Sozialleistungen wird das Wohlstandsgefälle zu einem Problem hochstilisiert.
Einzelfälle wie die Betrügereien in den NRW-Metropolen, die „schaden uns“, sagt eine Sprecherin des Polnischen Sozialrates, der ArbeitnehmerInnen aus Polen in Deutschland berät. „Da werden wieder alle in einen Topf geworfen, das ist ungerecht“. Die Sprecherin ist dafür, die Anträge auf Kindergeld genau zu überprüfen, um Betrüger herauszufiltern. In allen 14 regionalen Familienkassen in Deutschland sollen jetzt mehr Mitarbeiter damit beschäftigt werden, in der Zusammenarbeit mit Ordnungsämtern Betrugsfälle aufzudecken, berichtet der Sprecher der Bundesarbeitsagentur.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Spiegel-Kolumnist über Zukunft
„Langfristig ist doch alles super“
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Nachtcafé für Obdachlose
Störende Armut
Krieg in der Ukraine
„Weihnachtsgrüße“ aus Moskau