Debatte um Corona-Maßnahmen: Mehr Wissenslücken als Wissen
Es ist unklar, warum wir in der Coronakrise bislang glimpflich davongekommen sind. Die Politik ist überfordert, Forscher pflegen derweil Lagerbildung.
E gal ob man den Beginn des Coronazeitalters im Januar mit der ersten Infektion in Deutschland oder Mitte März mit Bundeskanzlerin Merkels Feststellung sieht, dass Deutschland in der Coronakrise vor der größten Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg stehe – Corona und Covid-19 haben seit rund einem halben Jahr unser Land fest im Griff. Auch bei anfänglicher Verkennung dessen, was da auf uns zukommt, kann die mangelnde Wahrnehmung und Aufmerksamkeit seit Angela Merkels Rede nicht mehr als Entschuldigung in Anspruch genommen werden.
Angesichts der enormen Bedrohung von Gesundheit, Ökonomie und sozialen Strukturen sollte man von einer Wissensnation der Größe und Relevanz Deutschlands eigentlich erwarten, dass das Verständnis der einzelnen Maßnahmen des Lockdowns unverzüglich und mit absoluter Fokussierung zu einem zentralen Ziel von Politik und Wissenschaft würden. Genau das ist jedoch nicht geschehen, auch wenn ein solcher Schein aufrechterhalten wurde.
Idealerweise hätte man auf den in den vergangenen Jahrzehnten entwickelten und etablierten Apparat zur Bewertung von Eingriffen, die das Infektionsgeschehen beeinflussen, zurückgegriffen. Dazu hätte gehört, alle weltweit relevanten Studien zu sammeln und zu einer gemeinsamen Aussage zur Wirksamkeit, den Risiken und den Kosten der Maßnahmen zu gelangen – das ist heute Standard und das Rückgrat jeder wissenschaftlichen Technikfolgenabschätzung.
Die Realität war jedoch eine andere. Dieses Vorgehen ist nicht einmal in Erwägung gezogen worden und wäre auch nicht erfolgreich gewesen, da es fast keine geeigneten Studien gab und, noch wesentlicher, keine Zeit, die etwas anderes als den erfolgten Lockdown als Schockreaktion zuließ. Das ist auch nachträglich zu rechtfertigen, zumindest aber nachzuvollziehen, und kann unter den gegebenen Bedingungen als richtig gelten.
Gerd Antes, Jahrgang 1949, forschte als Mathematiker und Biometriker an der Universität Freiburg und war Vorstandsmitglied des Deutschen Netzwerks Evidenzbasierte Medizin.
Ähnliche Maßnahmen – unterschiedliche Sterbezahlen
Nicht richtig ist jedoch, die erfolgten Maßnahmen und Schließungen als Ursache dafür anzusehen, dass Deutschland mit seinen Fall-, Hospitalisierungs- und Sterbezahlen so glimpflich davongekommen ist. Wir müssen uns eingestehen, dass wir nicht wissen, wieso das gelungen ist. Die Wissenslücken sind größer als das Wissen.
Gerade die vielfältigen nationalen Vergleiche suchen bis heute vergeblich nach schlüssigen Erklärungen, warum in ähnlichen Ländern einerseits ähnliche Maßnahmen zu unterschiedlichen Infektions- und Sterbezahlen führen, andererseits sehr unterschiedliche Maßnahmen jedoch keine gravierenden Unterschiede bei den Infektionen und Todesfällen zeigen. Besonders sichtbar ist das bei den unterschiedlichen Vorschriften zum Maskentragen zwischen Österreich, Deutschland und Dänemark – oder auch bei einem Vergleich mit Schweden.
Genauso wenig wie die Wissenschaft hat die Politik dazu beigetragen, dass heute ein stabiles Wissensgerüst bezüglich des Einsatzes von Masken, Abstand halten, Desinfektion und Testen existiert. Über das logistische Versagen, Masken in ausreichender Anzahl vorrätig zu haben oder Tests anzubieten und die Ergebnisse in akzeptabler Zeit zurückzumelden, müssen nicht viele Worte verloren werden.
Schwerwiegender ist die weitgehende oder völlige Konzeptlosigkeit vor allem mit Blick auf Maskenvorschriften oder die Auswahl der Personen, die einen Test bekommen. Tatsächlich wirken Masken, Abstand und Tests eher wie ein Bermudadreieck des Erkenntnisgewinns denn als Quelle für belastbares Wissen für notwendige, einschneidende Entscheidungen, die das Leben der Bevölkerung betreffen. Das häufige Ändern der Vorschriften bei Maskenpflicht und Testangeboten ist nicht die Folge von fundiertem Wissen, sondern der Ausdruck von Hilflosigkeit.
Wissenschaft auf der einen und die Politik auf der anderen Seite funktionieren weder allein noch in der Kooperation miteinander. Auch wenn der Schein aufrechterhalten wird, so ist die Distanz unübersehbar. Symptomatisch ist etwa die Verletzung wissenschaftlicher Standards bei der Präsentation von Studienergebnissen bei Pressekonferenzen – noch bevor die Ergebnisse in einer frühen Version der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Als Argument für solche Schritte wird immer wieder Zeitmangel herangezogen, dem in der gegenwärtigen Situation eine alles dominierende Rolle zugestanden wird.
Qualitätsverlust in der Forschung
Der offensichtliche Qualitätsverlust in der Corona-/Covidforschung ist eine Folge dieses allgegenwärtigen Zeitdrucks, gleichwohl jedoch auch der ungeheuren Zahl an Forschungsprojekten, Studien und wissenschaftlichen Unternehmungen, die mehr oder weniger in einem Massenstart auf den Parcours gegangen sind. Eine australische Plattform, die bereits publizierte oder noch laufende Studien und Zusammenfassungen zum Thema Corona listet, nennt ungeheure Zahlen wie über 16.000 Studien; allein in der vergangenen Woche sind 853 hinzugekommen.
Diese in kürzester Zeit entstandenen Aktivitäten sind beeindruckend umfangreich, gleichzeitig ist es selbst für Spezialisten schwierig oder unmöglich, sich einen sicheren Überblick zu verschaffen. Am dramatischsten ist jedoch, dass alle Teile dieser Forschungslawine unkoordiniert und ohne Blick auf laufende oder geplante Studien initiiert wurden. Damit bietet sich ein Bild, das einem Modellprojekt für Verschwendung gleicht: Viele Resultate werden ohne Abstimmung mehrfach produziert, während andere Fragen nicht beantwortet werden.
Spezielle Bedeutung hat der Zeitfaktor in der verzweifelten Suche nach geeigneten Medikamenten, sowohl nach Impfstoffen wie auch nach therapeutischen Mitteln. Auch hier hat es die Wissenschaft mit voller Wucht erfasst, mehr noch als bei der wissenschaftlichen Prüfung der sogenannten nichtpharmakologischen Interventionen (NPI) wie Masken und Abstand halten.
Für Arzneimittel wie für NPIs gelten die gleichen Prinzipien der wissenschaftlichen Bewertung; die Möglichkeiten der direkten politischen Einflussnahme sind bei Arzneimitteln jedoch ungleich größer. Das Einfallstor bilden die Zulassungsverfahren mit ihren regulatorischen Prozessen, wo per Anordnung unverzichtbare Schritte der Entwicklung übersprungen werden.
Das ist gegenwärtig bei der Impfstoffentwicklung in Russland wie auch in China zu beobachten, während die US-Regierung direkten Einfluss auf die nationale Zulassungsbehörde wie auch auf das Center of Disease Control and Prevention nimmt, um Notfallzulassungen zu begünstigen oder Labortests jeglicher Überprüfung zu entziehen.
Enorme Gefahren für Probanden
Diese Vorgänge sind äußerst bedenklich, sind doch die Zulassungsroutinen das Ergebnis jahrzehntelanger Entwicklung, um das Verhältnis von Nutzen und Risiko oder Schäden zu optimieren und auf jeden Fall dem Probandenschutz oberste Priorität zu geben. Jeder unqualifizierte Eingriff in diese Prüfschritte birgt enorme Gefahren nicht nur für Probanden in Studien und später Patienten, sondern kann zu sehr zeitraubenden Rückschlägen führen, wenn etwa durch Impfschäden nicht nur die Entwicklung ein Irrweg war, sondern daraus verheerende Auswirkungen auf die Impfbereitschaft folgen.
Zudem haben sich auch in Wissenschaftlerkreisen gewisse Verhaltensweisen merklich geändert: Es gibt einen deutlichen Hang zur Lagerbildung, wo Glauben statt Wissen die Zugehörigkeit bestimmt. Auch unter den Wissenschaftlern selbst sind die Sitten verroht. Öffentliche Aufforderungen, einen Artikel zurückzuziehen, sind nicht die Ausnahme, sondern teilweise mit aggressiven Formulierungen sogar öfter zu beobachten.
Auch hier wird der Boden dafür in der Wissenschaft selbst gelegt: Die bereits erwähnte Präsentation von Ergebnissen auf Pressekonferenzen mit Politikern, bevor auch nur ein halbwegs akzeptabler Report geschrieben wurde, erweist sich als klarer Bärendienst. Ebenso die öffentliche Interpretation der eigenen Daten, was daraus an Maßnahmen für den Lockdown folgen sollte. Diese Vermischung von Rollen führt zu Irritationen, Missverständnissen und schädlicher Wahrnehmung in der Öffentlichkeit – und damit zur Schädigung der Wissenschaft.
Eine Besonderheit Deutschlands ist der Föderalismus mit der Gesundheitsverantwortung bei den Ländern. Diese Struktur wird immer wieder als Stärke beschrieben, was jedoch bei einer Bedrohung durch eine globale Pandemie massiv in Zweifel gezogen werden darf. Wie weit markige Sätze zur Infektionsentwicklung von Landeschefs auf den Titelseiten von Zeitungen oder in TV-Interviews hilfreich sind oder vielleicht sogar den Zulauf zu Anti-Corona-Demonstrationen fördern, kann nur spekulativ beantwortet werden.
Dazu gehören Aussagen wie die des Hamburger Bürgermeisters Peter Tschentscher (SPD), dass sich die Länder um Einheitlichkeit bemühten, während die Obergrenze für private Feiern tatsächlich zwischen 50 und 500 schwankt. Oder die Feststellung des bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder, dass das Virus jeden Tag gefährlicher werde. Falscher geht’s nicht: Es wird häufiger, jedoch nicht gefährlicher. Besser kann man die Überforderung der Politik und eine daraus resultierende chronisch missglückte Risikokommunikation nicht demonstrieren.
Auch nach einem halben Jahr verschwendeter Zeit ist es nicht zu spät, jetzt alle Energie in eine kompetente Begleitforschung zu investieren und die belastbare empirische Basis für das Finetuning der Gegenmaßnahmen zu schaffen. Eine solche Basis muss die quantitativen Voraussetzungen liefern, um die Konsequenzen unterschiedlicher Szenarien zu bestimmen und damit Entscheidungsgrundlagen für die Politik zu liefern, die nicht aus Expertendiskussionen in Talkshows stammen.
Ob ich nach einer Reise fünf oder neun Tage in Quarantäne soll, hat enorme menschliche und ökonomische Auswirkungen und sollte nicht auf Bauchgefühl gegründet sein.
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