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Debatte kürzere ArbeitszeitenOhne Muße keine Freiheit

Die IG Metall fordert kürzere Arbeitszeiten. Damit stößt sie eine längst fällige Diskussion über Lebenszeit im Neoliberalismus an.

Leben ist mehr als Arbeit – das wusste schon Karl Marx Foto: dpa

Im derzeitigen konformistischen liberal-neoliberalen Politklima wird Tarifrunden der Charakter von Ritualen zugeschrieben und Gewerkschaften der Charme von Dinosauriern und Reliquien. Derlei Kurzschlüsse aber straft die IG Metall mit ihrer jüngsten Tarifforderung als dem Ressentiment geschuldeten Bieder- und Stumpfsinn ab.

Gestützt auf die glänzende Ertragslage in der Metall- und Elektroindustrie fordert die IG Metall sechs Prozent mehr Lohn. Das ist traditionelle Gewerkschaftspolitik. Aber eine zweite Forderung ist von ganz anderem Kaliber und weist weit über traditionelle Politik hinaus.

Eine Umfrage, an der sich über 600.000 Metallarbeiter beteiligten, ergab, dass 57 Prozent der Befragten länger arbeiten (müssen) als die 35 Stunden, die der geltende Tarifvertrag vorsieht. Und 82 Prozent wünschen, ihre Arbeitszeit vorübergehend zu verkürzen. Jörg Hofmann, der Erste Vorsitzende, und die Führung der IG Metall lesen dieses eindeutige Votum mit Recht als „Wunsch nach mehr Selbstbestimmung“ bei der Arbeitszeit, um diese dem „Leben“ anzupassen.

Die Gewerkschaft fordert für alle Beschäftigten, die Arbeitszeit ohne Begründungszwang auf bis zu 28 Stunden pro Woche zu reduzieren. Nach zwei Jahren sollen die Beschäftigten den Anspruch haben, wieder Vollzeit arbeiten zu können. Dieselbe Regelung soll auch für Schichtarbeitende und Beschäftigte in gesundheitlich besonders belastenden Jobs gelten. Für Beschäftigte mit Kindern unter 14 Jahren soll es monatliche Ausgleichszahlungen von 200 Euro geben, für Schichtarbeiter 750 Euro pro Jahr für den Minderverdienst.

Die heilige Kuh „Freiheit“ der Unternehmen

Noch vor Beginn der Verhandlungen warnte die FAZ am 27. Oktober 2017 die IG Metall vor dem Schritt auf „gefährliches Terrain“ und erinnerte an die Kosten des zwanzig Jahre dauernden Kampfes zur Durchsetzung der 35-Stundenwoche und den 2003 nach sechs Wochen abgebrochenen Streik, um diese Wochenarbeitszeitverkürzung auch im Osten des Landes zu erkämpfen, wo bis heute 38 Stunden pro Woche gearbeitet werden.

Die „Freiheit“ der Unternehmen, die Arbeitszeit nach Auftrags- und Konjunkturlage – in bestimmtem Rahmen – flexibel zu handhaben, ist eine heilige Kuh der kapitalistischen Marktwirtschaft und die „Zeitsouveränität“ des „freien“ Lohnarbeiters ein rotes Tuch für den Marktradikalismus: „Es passt nicht zu den Gegebenheiten und Anforderungen unserer Zeit, immer weniger zu arbeiten, aber womöglich noch immer besser leben und mehr Wohlstand erreichen, ja sogar erzwingen zu wollen. (…) Es stünde uns viel besser an, einmal ernsthaft die Frage zu prüfen, ob das deutsche Volk nicht bereit sein sollte, anstatt die 45-Stunden-Woche noch zu unterschreiten, wieder eine Stunde mehr zu arbeiten.“ Dies predigte der „Vater des Wirtschaftswunders“ und damalige Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard am 13. Januar 1953.

Der bornierte Sektenglaube, wonach Arbeit, Markt und Wachstum automatisch für Freiheit bürgen, ist relativ jung

Luitwin Mallmann, Geschäftsführer eines Arbeitgeberverbandes in NRW, meint 65 Jahre später immer noch, „Arbeitszeitverkürzungen“ bedrohten die „weltweit anerkannte Lieferverlässlichkeit“ der deutschen Industrie. Hinter so kapitaler Logik und durchsichtigen Interessen müssen elementare Vorstellungen von Autonomie und Freiheit des Individuums, wie sie zur Zeit der Aufklärung formuliert wurden und mittlerweile verfassungsrechtlich und menschenrechtlich garantiert sind, natürlich zurücktreten.

Die Vorstellungen, worin Freiheit und das Ziel des Arbeitens bestehen, waren unter Citoyens im 19. Jahrhundert ehrgeiziger und gehaltvoller als im heute vorherrschenden Liberalismus-Neoliberalismus. Sie reichten auf jeden Fall über mehr Wachstum, mehr Geld und mehr Konsum hinaus.

Die Schöpfung von verfügbarer Zeit

In einem genialen anonymen Traktat von 1821 hieß es dazu, in der Paraphrase von Karl Marx (1857/58): „Schöpfung von viel disposable time (verfügbarer Zeit, arbeitsfreier Zeit) für die Gesellschaft überhaupt und für jedes Glied derselben; diese Schöpfung von Nichtarbeitszeit erscheint auf dem Standpunkt des Kapitals als Nicht-Arbeitszeit, freie Zeit für einige“. Deshalb will das Kapital den Menschen zwingen, „jetzt länger zu arbeiten, als der Wilde“ es tat.

Aber für die Arbeitenden und die Gesellschaft geht es darum, die Arbeitszeit „auf ein fallendes Minimum zu reduzieren, und so die Zeit aller frei für ihre Entwicklung zu machen. (…) Denn der wirkliche Reichtum ist die entwickelte Produktivkraft aller Individuen“; und die bestand für Marx wie für seinen bürgerlichen Gewährsmann nicht darin, zu arbeiten und zu konsumieren. Das Ziel des Arbeitens ist es vielmehr, frei zu sein „für die Entwicklung einer individuellen Anlage“.

Leben meint mehr als Arbeit – für Marx wörtlich: „Selbstverwirklichung, (…) reale Freiheit“ und „Glück“ jenseits der historischen Formen von Sklaven-, Fron- oder kapitalistischer Lohnarbeit. Insofern fällt die aktuelle Debatte über die aufgeklärt-emanzipatorische Arbeitszeitforderung der IG Metall hinter das zurück, was vor 200 Jahren gedacht worden ist. Es geht abwärts voran mit der Verwirklichung der kultur- und menschenfeindlich-kapitalen Logik, wonach wer Arbeit hat, keine Zeit hat und wer Zeit hat, arbeitslos ist.

Der bornierte Sektenglaube, wonach Arbeit, Markt und Wachstum automatisch für Freiheit bürgen, ist relativ jung. Von der Antike bis in die Frühe Neuzeit galt die elitäre Auffassung, dass Arbeit Zwang sei und deshalb eines freien Bürgers unwürdig. Nur in Muße und abseits der wirtschaftlichen Effizienz- und Verwertungszwänge entfalten sich Bildung, Lebenskultur und Geschmack – bei Aristoteles wie bei Schiller und Humboldt. Marx entzog dieser elitären Vorstellung die Grundlage und erkannte den Schlüssel zu Selbstverwirklichung und Freiheit – für alle.

Mit ihrer Forderung nach „Arbeitszeiten, die zum Leben passen“ erweist sich der vermeintliche Dinosaurier IG Metall als lebendiger als die seichten Vorbeter einer „sozialökologischen Wende“ im Gefolge „identitätsprogressiver Kapitalisten“.

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17 Kommentare

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  • 6 Prozent sind absolut lächerlich niedrig.

  • Mein ultraböser Satire-Zweitie, der Neoliberale Ellenbogenkrieger, arbeitet als Höchstleistungsträger des STANDORTES DEUTSCHLAND üblicherweise zwischen 200 und 250 Stunden pro Woche (Zeitkompression durch Kokain macht es möglich!) und konnte das Herumgehühner um Arbeitszeiten noch nie verstehen!

  • 4G
    4932 (Profil gelöscht)

    Und der Gelackmeierte ist letzten Endes wieder mal der arme Aktionär. Während das linke Pack der Marxisten sich ein zweites Kopfkissen besorgt, um in Ruhe bis 12 Uhr durchschlafen zu können, geht der Aktionär zu Fuß zur Tafel und holt sich einen Kanten steinharten Brotes.

    Das kommt alles davon, weil diese Merkel-CDU derart nach links gerückt ist und der Kapitalismus mit solchen Tendenzen förmlich auf den Kopf gestellt wird. Das ist kein Kapitalismus mehr, der gut und richtig ist und den wir immer so geschätzt und geliebt haben..

    Wenn Frau M. das durchgehen läßt, dann wird in Wikipedia stehen: Frau M. hat den Kapitalismus geopfert für die marxistischen Faulpelze.

    (Ende meiner Betrachtung)

  • „Neoliberale“ Zeitgeist? Wie hoch war den im gelebten Sozialismus die vertragliche Wochenarbeitszeit?

    • 8G
      82236 (Profil gelöscht)
      @Andi S:

      Der gelebte Sozialismus ist bald 30 Jahre her und man kann davon ausgehen, dass bei erhöhter Produktivität die Arbeitszeit auch verringert worden wäre. Die effektive Arbeitszeit war ja ohnehin viel niedriger, wie viel Arbeitsstunden sind wegen Materialmangel ausgefallen und wurden trotzdem bezahlt?

      • 8G
        85198 (Profil gelöscht)
        @82236 (Profil gelöscht):

        Das ist wahr, die Bauarbeiter auf der Platte haben sich morgens erstmal ein Bier gegönnt, weil es keinen Kies gab, deswegen haben auch die Arbeiter in der Fabrik für die Platten nichts zu tun gehabt und getrunken. Naja, das ist halt so, wenn die Betriebe keine Verträge untereinander abschließen können und es keine Vertragsstrafen und Pleiten gibt. Die Betriebe zu sozialisieren und in gewerkschaftlich kontrollierte Stiftungen zu überführen, wäre eine Möglichkeit gewesen, die aber für die autoritären Vertreter der Diktatur des Proletariats nicht machbar war.

         

        Das wäre schließlich Anarchosyndikalismus gewesen und Anarchosynidkalisten wie die Machnowschtschina wurden etwa in der Ukraine Anfang der 20er mit brutaler Gewalt enteignet, verfolgt und getötet. In der DDR war es für Anarchisten da vergeichsweise gemütlich, aber die hatten auch nur den Schwarzen Kanal (die Punkband) und nicht keine Schwarze Armee. Leider wollte die Mehrheit der DDR-Bürger keine Reform des Sozialismus, wie von den Vorreitern der friedlichen Revolution gefordert, sondern lieber ein kapitalisitisches Großdeutschland. Das rechtsradikale Ergebnis ist in Sachsen bestens zu sehen.

         

        Aber ihr Einwand ist trotzdem richtig, die Arbeitszeit in der DDR ist nicht gleichzusetzen mit der im Kapitalismus. Ich frage mich wirklich, was zwischen 1953 und heute passiert sein muss, dass damals die Leute wegen einer Quotenerhöhung revoltierten und sie sich den Produktivitätsdruck heute einfach so gefallen lassen. Nach der Wende hat sich "die Quote" für alle massiv erhöht, außer man ist arbeitslos.

        Steinewerfer müssen sich neuerdings von Richtern sagen lassen, sie wären Terroristen und Leute werden wegen Dabeisein angeklagt und inhaftiert.

         

        Gut, dass die IG-Metall jetzt die konkreten Optionen zur Entschleunigung ergreift und damit auch ein Stück Solidarität mit Arbeitern in anderen Ländern zeigt, denn eine Arbeitszeitbegrenzung im Maschinenbau würde sicher auch den Exportüberschuss Deutschlands etwas absenken.

  • Wie funktioniert ein solches Konzept bei kleinen und Mittelständischen Unternehmen?

    Werden dann jeden Freitag die Leute gewechselt ?

    Und sind nicht Gelder für Kindererziehung eine Staatliche Angelegenheit und nicht der Unternehmer ?

    • 4G
      4932 (Profil gelöscht)
      @Günter Witte:

      Ja, warscheinlich stemmen die Rechten sich ja genau deshalb so sehr gegen die Abschaffung der sachgrundlosen Befristung der Arbeitsverhältnisse, weil sie schon geahnt haben, daß da wieder ein linker und marxistischer, übler Regenguss kommt. Jetzt war der Mindestlohn schon eine solche Unverschämtheit der Linken, daß man nur noch heulen könnte, und jetzt das!

      Oder?

    • 8G
      82236 (Profil gelöscht)
      @Günter Witte:

      In Ihrer hier bekannten Weltsicht hat die individuelle Selbstverwirklichung des Arbeiters keinen Platz, die bleibt nur Ihnen vorbehalten. Aber würde der Arbeiter mit seiner Freizeit machen? Die taz lesen und im Forum schreiben? Zum Yoga oder Pilatis gehen? Sophrologie und Wellness? Theater, Kino und Konzert? Nein, wahrscheinlich nicht und deshalb hat er in den Augen von Bourgeois Bohèmes, innerhalb des S-Bahn Rings auch nicht das Recht auf mehr Freizeit, vor allem, wenn er für einen Mittelstandsbetrieb arbeitet.

      Mensch Witte, Ihr Reaktionäre habt doch das gleiche Argument rausgeholt, als die IG-Metall für die 40 Stunden Woche gekämpft hat mit dem Slogan" Am Samstag gehört Papi uns." Und ist der Mittelstand davon untergegangen?

      • @82236 (Profil gelöscht):

        Sie haben recht. Danke.

  • Der neoliberale "Zeitgeist" hat sogar die bisherigen Errungenschaften zunichte gemacht. In den meisten betrieben wird nach wie vor 40 Stunden pro Woche gearbeitet. Und durch Auslagern von Tochterunternehmen, Werksverträge und Leihkräfte stehlen sich auch viele (große!) Arbeitgeber aus den Tarifgefügen. Die "Töchter" sind meist nicht tarifgebunden und Leihsklaven meist nicht in der Gewerkschaft.

  • Nein, so eben nicht:

    Es geht den Gewerkschaften (zumindest argumentativ) nicht darum die Füße in die Sonne zu strecken, sondern anstatt in der Firma zu arbeiten die Kinder zu erziehen oder einen Angehörigen zu pflegen. Also Arbeit durch Arbeit zu ersetzen.

     

    Ansonsten das übliche Bild: Gepamperte Metaller kriegen noch mehr von dem was man Leiharbeitern, kleineren Firmen oder nicht so produktiven Wirtschaftszweigen (Gesundheitsbereich, Dienstleister...) keinesfalls zugestehen wird bzw. mangels Gewinnen nicht verhandelbar wird .

    Es wird Zeit hier eine Diskussion zu beginnen was Gerechtigkeit in einer Gesellschaft ausmacht. Immer nur reiche Arbeitgeber vs. reiche Arbeitnehmer im Kontext der Metall- oder Chemiegewerkschafter ist langweilig für den Normalbürger der oft von beidem weit entfernt ist.

    • @Tom Farmer:

      Seltsame Logik: weil die Einen keine fairen Löhne erstreiten (können), sollen die Anderen auch keine haben?

      • @Läufer:

        Doch doch, die Anderen sollen die auch haben.

        Aber leider ist nicht genug für alle da.

         

        Und raten Sie mal, bei wem es dann wohl zuerst "weniger vom mehr" gibt, wenn der festangestellte Metaller dann mehr kriegt?

        ....

        genau: Beim Leiharbeiter von Daimler und Co., der Fremdfirma, oder dem Zulieferer oder der outgesourcten Putzfrau...

      • @Läufer:

        Ich denke eher, dass die das erstreiken können, es egal ist das die anderen es nicht können.

  • Zitat: „Es passt nicht zu den Gegebenheiten und Anforderungen unserer Zeit, immer weniger zu arbeiten, aber womöglich noch immer besser leben und mehr Wohlstand erreichen, ja sogar erzwingen zu wollen.“

     

    Tja, das hätte der „Vater des Wirtschaftswunders“ mal den Unternehmern sagen sollen. Die hätten sich vermutlich totgelacht. Womit die Arbeitszeit schon 1953 (ebenso schlagartig wie vorübergehend) auf Null gesunken, wenn auch vielleicht nicht unbedingt bei vollem Lohnausgleich.

     

    Wie dem auch sei. Schön, dass zur Abwechslung mal beide Seiten nicht (nur) über Geld verhandeln miteinander. Es heißt ja schließlich Arbeits-MARKT, nicht Arbeits-DIKTATUR. Da sollte man schon feilschen (lassen) dürfen.