Debatte Wohnungsnot in Großstädten: Gegenteil einer sozialen Bewegung
In Großstädten tritt immer häufiger ein links-alternatives Bürgertum auf, das ein Recht auf Stadt einfordert – für sich und nicht für Wohnungslose.
D ie Schaffung und Sicherung bezahlbaren Wohnraums für alle Bevölkerungsschichten gehört zur DNA sozialer Bewegungen. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts entstanden in Preußen die ersten Wohnungsbaugenossenschaften und nach dem Ende des Ersten Weltkriegs erlebte diese Form gemeinwirtschaftlichen Wohnungseigentums einen großen Aufschwung.
Und ab den 1970er Jahren begann vor allem in Westberlin, aber auch in anderen Großstädten eine regelrechte Welle von Hausbesetzungen unter der Losung „Die Häuser denen, die drin wohnen“. Die Besetzungen wurden entweder von der Staatsgewalt unter Berufung auf das Eigentumsrecht der Besitzer beendet oder mündeten in legalisierte Formen wie Genossenschaften und Hausvereinen.
Doch kurz nach der Jahrtausendwende begann ein riesiges Rollback. Kommunale und andere Bestände des im weitesten Sinne gemeinwohlorientierten Sektors wurden an private Investoren verkauft, Baugrundstücke fast ausschließlich nach dem Höchstpreisprinzip vergeben. Verbunden mit der weitgehenden Einstellung des sozialen Wohnungsbaus führte dies allmählich zu einem dramatischen Mangel an bezahlbarem Wohnraum für große Teile der Bevölkerung.
Mittlerweile hat die Politik die Dramatik der Lage anscheinend erkannt und setzt wieder – wenn auch zaghaft – auf regulatorische Eingriffe in den Wohnungsmarkt. Doch besonders in bestimmten großstädtischen Milieus tritt inzwischen ein „links-alternatives“ Bürgertum auf den Plan, das in eloquenter Selbstermächtigung ein „Recht auf Stadt“ einfordert, und zwar für sich und nicht für die große Masse der von Wohnungsnot betroffenen Menschen.
Soziale Wohnraumversorgung
Gern kokettiert man bei diesen unter dem Label „Stadtgesellschaft“ agierenden Gruppen mit der alten Losung „Die Häuser denen, die drin wohnen“, und knüpft auch an genossenschaftsähnlichen Eigentumsformen und der Idee der „nachbarschaftlichen Selbstverwaltung“ als Form der „direkten Demokratie“ an.
Erneut ist Berlin – wie schon bei den Hausbesetzungen – Vorreiter dieser Entwicklung. Bei größeren innerstädtischen Bauvorhaben werden Landesregierung und Planungsbehörden schlicht die Legitimation abgesprochen, im gesamtstädtischen Interesse unter der Prämisse der sozialen Wohnraumversorgung vorzugehen.
Im Aufruf zu dem großen Vernetzungskongress „Urbanize“ im Oktober hieß es, Ziel der „Stadtgesellschaft“ sei es, die „Normalität des politischen und Verwaltungshandelns in kreative Unruhe zu versetzen“. Kategorisch wird gefordert, dass alle städtischen Wohnungsbauvorhaben einer ergebnisoffenen Partizipation, also einer Art Genehmigungsvorbehalt, seitens der selbst ernannten „Stadtgesellschaft“ unterliegen.
Propagiert wird stattdessen ein neuer Munizipalismus, eine ursprünglich dem Anarchismus entlehnte Form der basisdemokratischen Politik in Gemeinden und Stadtteilen.
Selbstbewusste Stadtgesellschaft
Bei Grünen und Linken rennt man damit in Berlin offene Türen ein. Schon vor der Wahl im Herbst 2016 hatten sich diese beiden Parteien in die Kampagnen der „Neubaukritiker“ eingereiht, unter anderem gegen die Randbebauung des Tempelhofer Feldes und des Mauerparks. Als Regierungsparteien knüpften beide Parteien daran an und setzten im Koalitionsvertrag umfangreiche Formen der Partizipation durch, die von der „Stadtgesellschaft“ vor allem dazu genutzt werden, um Neubauvorhaben zu reduzieren, zu verzögern oder gar zu verhindern.
Und wenn schon gebaut wird, dann bitte unter maßgeblicher Beteiligung „lokaler Akteure“ mit „selbstverwalteten Strukturen“. Bei innerstädtischen Verdichtungen kommen dann stets noch die berühmten „Kaltluftschneisen“ dazu. Mit dabei sind auch die sogenannten Baugruppen und Mikrogenossenschaften, also jene gut betuchten Teile des alternativen Bürgertums, die sich unter der Fahne der Selbstverwaltung mit öffentlicher Förderung ihr Wohneigentum in bester Lage sichern wollen.
Was sich da als emanzipatorische, soziale Bewegung geriert, ist im Kern das genaue Gegenteil. Wer die Castings für Wohnungen in selbstverwalteten Häusern kennt, kann sich kaum vorstellen, dass ein identitätspolitisch unbedarfter und überhaupt bewegungsferner „Normalo“ jemals eine Chance haben könnte, die Wohnung zu bekommen, auch wenn er sie noch so dringend bräuchte. Wenn schon Hartz-IV-Bezieher, dann bitte aus dem eigenen soziokulturellen Milieu und gern auch eine Flüchtlingsfamilie für die antirassistische Credibility.
Eine selbstbewusste Stadtgesellschaft, die diesen Namen verdient und sich auf die sozialen Bedürfnisse großer Teile der Bevölkerung bezieht, müsste dem entschieden entgegentreten, statt es unter falscher Flagge zu hätscheln. Wohnungsbau und Wohnraumvergabe gehören unter öffentliche und entsprechend legitimierte Kontrolle, was auch bedeutet, gesamtstädtische soziale Notwendigkeiten gegen egoistische Klientele durchzusetzen.
Mächtige Immobilienlobby
Und zwar sowohl gegen die mächtige Immobilienlobby als auch gegen alternative Kiez- und Projektegoisten. Eine rot-rot-grüne, also dem Selbstverständnis nach eher linke Stadtregierung hätte die Aufgabe, diese Prämissen durchzusetzen und die Interessen der 50.000 Wohnungslosen in den Mittelpunkt zu stellen. Aber sie tut es nicht, weil besonders Linke und Grüne selber stark in diesen neobürgerlichen Milieus verwurzelt sind.
Es wäre dringend notwendig, die alte linke Losung „Die Häuser denen, die drin wohnen“ teilweise neu zu interpretieren. Natürlich bleiben Besetzungen spekulativ leer stehender Immobilien mit dem Ziel der kollektiven Aneignung ein legitimes Mittel. Doch ein quantitativ relevanter Teil der Lösung der Wohnungsfrage sind sie nicht. Es geht um die Schaffung und Verteilung von Wohnungen, die allen gehören und von allen genutzt werden können, und nicht nur wortmächtigen oder reichen Minderheiten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind