Debatte Stadtflucht von Charlotte Roche: Rehe stinken
Klar, wir brauchen den Rückzug als Ausgleich. Doch Menschen, die was verändern wollen, ziehen in die Stadt, den idealen Ort zum Handeln.
Auf dem Land werden wir gesund. Die Stadt ist schmutzig, sie macht krank und entfremdet uns von uns selbst. Das ist kein neuer Gedanke. Wir nannten das früher: Zurück zur Natur. Neu erzählt hat ihn Charlotte Roche in ihrem vieldiskutierten Text „Verlasst die Städte“ im Magazin der Süddeutschen Zeitung. Ihr Artikel ist schön geschrieben und scheint vielen aus dem Herzen zu sprechen, zumindest wurde er sehr oft geteilt.
An der schönsten Stelle erklärt Roche, dass man auf dem Land in der Nacht endlich die Sterne leuchten sehe. Und die fehlten uns in der Stadt, „denn wir denken: Wir sind der Sternenhimmel, wir leuchten mehr als die Sterne.“ Dass diese Ruhe und das Kleinerwerden der eigenen Probleme guttut, liegt auf der Hand. „Narren hasten, Kluge warten, Weise gehen in den Garten“ lautet ein altes Sprichwort. Dennoch ist der Ratschlag, das Glück auf dem Land zu suchen, nicht weise. Weise gehen in die Stadt.
Erstens: Das Landleben wird idealisiert. Der US-Komiker Louis CK veranschaulicht das am Beispiel von Rehen. Als er noch Städter war, sei er beim Anblick eines Rehs ehrfürchtig stehengeblieben, erzählt er. Inzwischen wohnt er auf dem Land – und hasst Rehe. Sie stinken, sie kacken überall hin, sie brüllen blöde herum. So ist das eben.
Vielleicht ist Charlotte Roche eine Ausnahme, aber den Frieden des Landlebens spüren die meisten nur im Kontrast zur Großstadt. Vielleicht wird sie diese Erfahrung aber auch noch machen, denn aufs Land ist sie wohl erst vor Kurzem geflohen. Wenn außerdem das Landleben geistig so gesund machen würde – warum werden AfD, Le Pen und Trump so oft von Menschen aus ländlichen Gegenden gewählt? Auch die NSDAP hatte auf dem Land starken Rückhalt. Das soll nicht die Menschen vom Land pauschal schlechtreden, aber große Weisheit scheint dem Landleben nicht automatisch zu entspringen.
Öffentliches Handeln hilft gegen unsere Leiden
Wahrscheinlich versteht Roche nur nicht, wie privilegiert sie ist. Als bekannte Autorin bekommt sie nämlich in Riesenportionen eingeschenkt, was andere nicht haben, wonach sie aber hungern – und was sie in den Städten suchen: Handeln in der Öffentlichkeit. Das sagt Hannah Arendt.
Öffentliches Handeln ist das Gegenmittel zu unserem Leiden. Dieses Leiden besteht nämlich nicht hauptsächlich aus zu wenig Sternenhimmel, sondern entspringt dem Gefühl von „Entweltlichung“. Wir spüren die Welt nicht, wenn wir nur Rädchen im Getriebe sind, uns nur am angeblichen Lauf der Sterne orientieren. Wir spüren sie, indem wir gemeinsam die Dinge in die Hand nehmen. Wir erleben Freiheit, wenn wir zusammen die Getriebe anhalten oder neue in Gang setzen. Das macht glücklich. Nicht der Rückzug ins Private, also das gemütliche Pilzesammeln im Wald, der Blick in den Sternenhimmel von der Terrasse aus, um danach mit der Familie Netflix zu schauen.
Hannah Arendt meint vor allem politisches Handeln und miteinander sprechen. Aber auch, wie wir feiern und uns kleiden und sonst wie leben, kann öffentliches Handeln sein. Das zeigt die Demonstration der Berliner Kulturszene gegen die AfD am gestrigen Sonntag in Berlin. Unter anderem nahmen 70 Berliner Clubs teil. Sie wehren sich dagegen, dass die Rechte das macht, was sie so gerne macht: anderen vorschreiben, wie sie zu leben und zu feiern haben.
Der ideale Ort für öffentliches Handeln ist die Stadt
Wer das Glück nur in der Ruhe sucht, im Privaten, fern von Autolärm und vom „Sternenlicht“ anderer Menschen, tut sich damit nichts Gutes. Das Private allein ist klein und leer. Es stimmt: Wir brauchen den Rückzug als Ausgleich. Abseits dessen ist die Stadt der Ort, in den Leute ziehen, die etwas verändern wollen.
Sie erfinden neue Tanzstile oder setzen goldglitzernde Baseballcaps auf. In der Stadt finden wir Männer, die sich die Augen und Lippen schminken. Hier trugen die ersten Frauen Hosen und kurze Haare. Hier greifen wir ein, hier wurden die großen Arbeitskämpfe ausgefochten, hier blockieren wir die AfD. Hier sehen wir faszinierenden neuen Denkerinnen beim Denken zu oder streiten darum, ob die Stadt der Zukunft mit oder ohne Autos zu sein hat (selbstverständlich Letzteres!).
Wir leben in einer aufregenden, politisierten Zeit. Hier und heute ist Zuschauen die schlechteste Option. In den nächsten Jahrzehnten wird viel machbar sein. Es ist die Zeit der Stadt. Öffentlichkeit ist das Buch, in das wir unsere gemeinsamen Geschichten schreiben. Zwar gibt es auch in der Stadt den Rückzug ins Private, und auch auf dem Land gibt es Öffentlichkeit. Aber der ideale Ort für öffentliches Handeln ist die Stadt.
Die Möglichkeiten dazu werden uns derzeit zunehmend wegverwertet. Markt- und Geldideologen machen die urbane Öffentlichkeit kaputt, indem sie Freiräume zerstören. Orte, die nicht nur an Profit ausgerichtet sind; kleine Ausstellungen, Vereine, Kneipen, Klubs, Nachbarschaftstreffs. Übrig bleibt nur, was sich finanziell lohnt. In den Städten bleiben außerdem nur noch diejenigen, die gut verdienen und dafür so viel von sich investieren müssen, dass ihnen in der Regel keine Kraft mehr bleibt, sich zu engagieren oder neue Tanzstile auszuprobieren.
Aber noch haben wir nicht verloren. Gegen Entweltlichung hilft es, zusammenzuhalten und einzugreifen. Das wäre Hannah Arendts weiser Ratschlag: Zieht euch nicht noch mehr zurück, sondern greift ein. Das hilft. Da kommt Leben in die Bude. Die Stadt ist ein riesiger, von Menschen und Persönlichkeiten wimmelnder Marktplatz. Das ist zwar anstrengend, aber schön.
Es stimmt: In der Stadt sind die Lichter am Himmel weniger sichtbar. Dafür kann hier das Licht der Menschen aufleuchten. Geht aufs Land, wenn ihr gestresst seid. Bleibt dort, wenn ihr euch nicht mehr einmischen wollt, wenn ihr dringend Ruhe braucht. Aber erzählt nicht, dass dort alles besser sei. Sonst geht es euch wie vielen anderen, die zerknirscht zurückgekrochen kamen. Und dann schämt ihr euch.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag