Debatte Soziale Gerechtigkeit: Die Löhne müssen steigen
Die Debatte über Gerechtigkeit konzentriert sich seit Jahren auf die Sozialpolitik. Das ist falsch. Die Umverteilung von unten nach oben ist das Problem.
D as progressive Lager ist immer noch auf der Suche nach einer politischen Erzählung, die ausreichend mobilisierend wirkt, um die Dominanz konservativer Parteien in weiten Teilen Europas zu brechen.
Dabei wird die Frage der sozialen Gerechtigkeit eine zentrale Rolle spielen müssen. Allerdings muss das Thema auf eine andere Art behandelt werden als in der letzten Phase linksliberaler politischer Dominanz in Europa.
Spätestens seit den Zeiten des „Dritten Wegs“, im Grunde aber schon seit den 70er Jahren, ist eine weitgehende Verengung der linken (und grünen) Debatte über Gerechtigkeit und Ungleichheit auf die Frage des Umfangs von redistributiver Sozialpolitik zu beobachten.
Nicht die Lohnquote, sondern Sozialausgaben und Steuerquoten wurden als zentrale Indikatoren einer funktionierenden sozialen Marktwirtschaft betrachtet und entsprechend kontrovers diskutiert.
Das Problem der Aufteilung der Wertschöpfung zwischen Kapital und Arbeit blieb dagegen der politischen Kontroverse weitgehend entzogen und wurde gleichsam zur inneren Angelegenheit der Ökonomie erklärt. Damit ignorierte die Debatte die eigentliche Ursache der wachsenden Ungleichheit in fast allen OECD-Ländern. Diese liegt eben nicht in sinkenden Sozialausgaben oder restriktiven Sozialstaatsreformen à la Hartz IV. Vielmehr wurzelt sie in der deutlichen Verschiebung der Verteilung der Wertschöpfung zwischen Kapital und Arbeit.
ist Leiter des Referats Internationale Politikanalyse der Friedrich-Ebert-Stiftung. Eine Langfassung des Beitrags gibt es in „Die Gute Gesellschaft – Soziale und Demokratische Politik im 21. Jahrhundert“ (Suhrkamp 2013).
Diese Verschiebung hat zu einer massiven Umverteilung von unten nach oben geführt. Zahlen der Hans-Böckler-Stiftung zufolge betrug die Nettolohnquote 1960 fast 56 Prozent, 1991 noch 48 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Heute dagegen ist sie auf 39,4 Prozent abgesunken, während parallel die Nettogewinnquote von 24,4 auf 34 Prozent stieg.
Die Krankheit bleibt
Wie hilflos redistributive Sozialpolitik gegenüber den Folgen dieser Verteilungsdynamik ist, lässt sich auch für Deutschland an einer Vielzahl von Indikatoren ablesen: vom Anstieg der gesellschaftlichen Ungleichheit über die anhaltende Stagnation der Realeinkommen bis zur Zunahme von Prekarisierungstendenzen auch in der Mitte der Gesellschaft.
Der redistributive Arzt des Sozialstaats bekämpft eben nur die Symptome, nicht aber die Krankheit. Zudem drohen sich die Langzeitfolgen dieser Entwicklung zu einem Überforderungsprogramm für Sozialkassen und Staatshaushalte auszuwachsen. Dies gilt für die Milliarden-Unterstützung für sogenannte Aufstocker ebenso wie für die Langzeitfolgen der Lohnstagnation bei den Renten.
Der Versuch, das wohlfahrtsstaatliche Niveau der Nachkriegszeit trotz der Verschiebungen der Primärverteilung aufrechtzuerhalten, ist ein treibender Faktor der expandierenden Staatsverschuldung in Europa.
Spielraum trotz Globalisierung
Angesichts dieser Entwicklungen erscheint eine Refokussierung der Gerechtigkeitsdebatte auf Fragen der politischen Ökonomie zwingend nötig. In deren Zentrum steht nun mal die Frage der Verteilung der Wertschöpfung zwischen Löhnen und Gewinnen.
Eine einfache Aufgabe ist die Korrektur des Umverteilungstrends der letzten Jahrzehnte nicht: Globalisierung, europäische Integration, verfestigte Massenarbeitslosigkeit, Arbeitsmarktreformen und Zuwanderung haben zu einer erheblichen Einschränkung der Wirksamkeit staatlicher Politiken (aber auch gewerkschaftlicher Strategien) in diesem Bereich geführt. Das Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit hat sich zuungunsten des Faktors Arbeit verändert.
Dennoch sind selbst im Rahmen pragmatischer Politikvorstellungen Handlungsmöglichkeiten vorhanden. Dies gilt natürlich zunächst einmal dafür, wie der Staat und die Sozialsysteme finanziert werden. Eine Entlastung des Faktors Arbeit – die sich unmittelbar auf das Nettolohnniveau durchschlagen würde – ist dringend geboten.
Ansätze gibt es viele
Aber auch die relative Verhandlungsmacht von Kapital und Arbeit innerhalb der Ökonomie wird eben immer auch durch die politische Rahmengestaltung beeinflusst. Erweiterte Mitbestimmungsrechte, Stärkung von Arbeitnehmerbeteiligungen an den Betriebsergebnissen, die Einführung von soliden Mindestlöhnen, die Reregulierung von Arbeitsmärkten, die Stärkung von Arbeitnehmerrechten und Organisationsmöglichkeiten für Gewerkschaften, eine offensive Lohnpolitik im öffentlichen Sektor, eine stärkere Besteuerung von Gewinnen und Spitzeneinkommen – mögliche Ansätze eines ernsthaft betriebenen „stakeholder capitalism“ gibt es viele.
Dies gilt zumal für Deutschland, das aufgrund der relativen Stabilität seiner Staatsfinanzen die „Zweitschlagfähigkeit“ der Märkte (Claus Offe) weit weniger fürchten muss als andere Länder in Europa. Ziel der Politik muss es sein, die wachstumsschädliche Umverteilung von den Löhnen zu den Gewinnen der letzten Jahrzehnte zu korrigieren, die Entkoppelung von Produktivitäts- und Lohnentwicklung zu bekämpfen, den Sozialstaat von der Subventionierung unzureichender Arbeitseinkommen zu entlasten und die Finanzierung des Staates wieder auf breitere Schultern zu verteilen.
Auch für Spanien gut
Dies ist im Übrigen auch die einzige Möglichkeit, über die Stärkung der Nachfrageseite auf einen stabilen Wachstumspfad zurückzukehren und der wachsenden privaten und öffentlichen Verschuldung zu entkommen.
Die verteilungspolitischen Spielräume für eine derartige nachfrageorientierte Politik gehen weit über das hinaus, was Sozialtransfers zu bewegen in der Lage sind: Stünde die Bruttolohnquote heute dort, wo sie 1980 stand, wäre die jährliche Bruttolohnsumme in Deutschland um knapp 184 Milliarden Euro höher.
Diese Summe entspricht in etwa den addierten Budgets der Ministerien für Arbeit und Soziales, Gesundheit, Bildung und Forschung, Familie und Verteidigung.
Die soziale und ökonomische Hebelwirkung, die von einer besseren Primärverteilung ausgehen würde, kann nicht überschätzt werden.
Dass damit auch ein Beitrag zur Ankurbelung von Binnennachfrage und Importen und damit zur Abschwächung der europäischen Handelsungleichgewichte geleistet werden könnte, ist ein Zusatzeffekt, den vor allem unsere europäischen Partner zu schätzen wüssten.
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