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Debatte Russlandkritik und UkraineEine begründete Angst vor Moskau

Kommentar von Claus Leggewie

In der deutschen Publizistik betreiben viele einseitig Geschichtspolitik. Eine Lösung in der Ukraine läuft auf einen transregionalen Föderalismus hinaus.

Die russische Armee marschiert. Ein Bild, das in vielen Teilen Osteuropas auch heute noch Ängste weckt. Bild: dpa

D er eklatante Fehlgriff Antje Vollmers, in ihrem taz-Debattenbeitrag vom 7. Oktober die Putin-Kritik des Bundespräsidenten Gauck auf ein unbewältigtes Familientrauma zurückzuführen, sei ihr nachgesehen. Auch die Abkanzlung von ihr abweichender Meinungen auf die schwarz-grüne Hinterbank und der Ritterschlag Gerhard Schröders zum Dissidenten.

Das eigentliche Problem aber ist, dass sie unterstellt, Gauck habe die Russland-Diplomatie aufgegeben. Das Gegenteil ist der Fall. So ist etwa die Weigerung, nach Sotschi zu fahren, Teil einer Haltung, die die Ängste der Nachbarn ernst nimmt, und Putin etwas entgegensetzen will – aber natürlich trotzdem im Gespräch mit dem russischen Präsidenten bleiben will. Die Mehrheit der deutschen und europäischen Diplomatie weist ja zu Recht darauf hin, man müsse seine Partner so nehmen, wie sie sind: Putin, Erdogan und – wer weiß – demnächst eine Präsidentin Le Pen.

Aus der friedlichen Koexistenz vor dem Ende des alten Ost-West-Konfliktes war zu lernen, dass man die kommunistischen Unrechtsstaaten als solche benennen und kritisieren konnte, ohne deshalb auf dauernde, auch grenzwertige Kompromisse mit deren Staats- und Parteiführungen zu verzichten. Egon Bahrs „Wandel durch Annäherung“ war weniger durch ihn selbst, aber sachlich-objektiv komplementiert durch Kontakte von Bürgerrechtlern zur Charta 77 und zur polnischen Gewerkschaft Solidarnosc. Auf Entspannung um jeden Preis zu setzen bedeutete Verrat an den Bürgerbewegungen, mit Gierek, Honecker oder Breschnew nicht zu reden hätte sie ebenso im Stich gelassen.

Claus Leggewie

ist Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen. Vor Kurzem gab er gemeinsam mit Frank Adloff „Das konvivialistische Manifest: Für eine neue Kunst des Zusammenlebens“ (transcript) heraus.

Der Groll vieler Intellektueller und Politiker aus den Ländern Ostmitteleuropas über eine Entspannungspolitik, die polnische Gewerkschafter als reaktionäre Katholiken denunzierte, ist höchst verständlich. Während das Geschäft der Berufspolitik das Bohren dicker Bretter in immer neuen Anläufen ist, ist die Pflicht der geistigen Welt, Unrecht und Unterdrückung beim Namen zu nennen. Gauck ist umstritten, weil er beide Rollen kann.

Historisch sensibel argumentiert, wer in beide Richtungen blickt

Das bedeutet nicht Äquidistanz: Als Ostdeutscher weiß er besser als die meisten Westeuropäer, dass man nicht nur die Umzingelungsfurcht Russlands „verstehen“ muss (sie wurde übrigens schon Lenin und Stalin zugute gehalten), sondern auch und vor allem die begründete Angst der Nationen, die von Preußen-Deutschland und Russland in ihren verschiedenen Aggregatzuständen unterdrückt und geteilt, ja: zu erheblichen Teilen vernichtet wurden.

Wenn man historisch „sensibel“ argumentiert, dann bitte nicht nur im Blick auf nicht gehaltene Versprechungen, die Nato-Grenzen nicht nach Osten zu verlegen, sondern auch auf diese ältere Geschichte, die den Wunsch nach Schutz vor Moskau mindestens ebenso „verständlich“ macht. Es ist geradezu absurd, Ukrainern und Polen, die im Zweiten Weltkrieg über alle Maßen geblutet haben, mit Hinweis auf die russischen Opfer Schweigen aufzuerlegen.

In Polen, in den baltischen Ländern, in der Ukraine und in Weißrussland sind nicht weniger als 14 Millionen Menschen außerhalb von unmittelbaren Kampfhandlungen im Krieg ums Leben gekommen. Vor allem Westeuropäer müssen erst noch anerkennen, wie zwischen 1939 bis 1945 in den „Bloodlands“ (Timothy Snyder) beide totalitären Regime in einer Art antagonistischen Kooperation verbunden waren und sich wechselseitig radikalisierten. Russifizierung und Lebensraumprojekte waren nicht identisch, sie griffen aber ineinander.

In der deutschen Politik gibt es zu viele Intellektuelle, die Russland einfühlsam verstehen, in der deutschen Publizistik zu viele RealpolitikerInnen, die einseitig Geschichtspolitik betreiben. Die natürlichen Reibungen zwischen ihnen werden produktiv, wenn man nichtmilitärische Lösungen nicht nur gebetsmühlenartig fordert, sondern sich der Mühe unterzieht, sie konkret und plausibel zu entwickeln. Statt auf dem mythisch überhöhten Erfahrungshintergrund der Feindschaften zu beharren, muss der Erwartungshorizont einer lebensfähigen Region skizziert werden.

Die Ukraine muss Brücke statt Zankapfel sein

Nach Lage der Dinge ist die Ukraine nun faktisch geteilt und würde nur mit Gewalt wieder zu vereinen sein. Wer eine gedeihliche Zukunft wünscht, muss Puzzleteile für einen derzeit aussichtslos wirkenden Dialog zwischen den vernünftigen Kräften in Kiew und Moskau zusammensetzen – im Rahmen einer transnationalen Diplomatie, die Weltbank und Washington, Brüssel und London, Warschau und die baltischen Hauptstädte einschließt und dabei namentlich auf Nichtregierungsorganisationen rekurriert.

Pragmatiker und Prinzipienhüter müssen also ein Szenario ausmalen, in dem die Ukraine nicht mehr als Zankapfel (oder Beutegut) zwischen Europäischer Union und Putins Oligarchie auftritt, sondern eine tragfähige Brücke bildet über alte und neue Ost-West-Gräben. Der Grundton im neoimperialen Russland ist derzeit Annexion, worauf ethnische Nationalisten in der Ukraine militärisch antworten; eine zivile Lösung läuft demgegenüber auf einen transregionalen, grenzüberschreitenden Föderalismus hinaus.

Die Wirtschaft der Region speist sich zu einem großen Teil aus Renteneinkünften aus der Förderung und dem Durchlauf von Gas und Öl; eine nachhaltige Entwicklung orientiert sich an den Bedürfnissen der breiten Bevölkerung und schützt überdies „postkarbon“ globale Gemeingüter wie das Meer und die Atmosphäre.

Es wird der Tag kommen, wo solche „Träumereien“ als realistischer anerkannt werden denn regressive Macht- und Säuberungsfantasien. Entstanden sind diese in Moskau, Donezk und auch Kiew aus der Maidan-Angst vor einer umfassenden und nachhaltigen Demokratisierung; gegen alle Evidenz bleibt sie auf der Tagesordnung. Wahr ist: Die Utopie regionalen Ausgleichs muss ausgearbeitet werden vor der Kulisse antagonistischer Geschichtsbilder und nachhaltig gestörter Kommunikation.

Und zur Wahrheit gehört auch auszusprechen, dass ein analoges Vorgehen Moskaus in den baltischen EU- und Nato-Ländern diesen gar nichts anderes übrig ließe als den endgültigen Bruch. Sonst würde Europa sich endgültig aufgeben.

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11 Kommentare

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  • Herr Leggewie s Beitrag ist schon sehr unverschämt: an sich vernünftige Ziele bei extrem verlogener Argumentation. Zudem sprachlich z.T. erbärmlich (siehe das "aber" zu Beginn des zweiten Absatzes). Im Ukraine-Konflikt verdreht er Ursache und Wirking (wiewohl diese natürlich nie absolut zu sehen sind). Die Unterstellung, NATO-kritische Stimmen würden die Ängste der Bevölkerung in Ländern zwischen Russland und Deutschland nicht wahrnehmen ist völlig daneben. Zu guter Letzt versucht er noch, die Opfer Nazideutschlands durch Vermischung und Einfließen Lassen an der ihm passenden Stelle der Sowjetunion zuzuschieben.

    Keine Werbung für seinen Wissenschaftszweig.

    Aber gut, eines Tages wird er sich für diesen Artikel wohl schämen.

    Bitte immer im Archiv aufbewahren, liebe taz ;-)

  • "Der Grundton im neoimperialen Russland ist derzeit Annexion, worauf ethnische Nationalisten in der Ukraine militärisch antworten; eine zivile Lösung läuft demgegenüber auf einen transregionalen, grenzüberschreitenden Föderalismus hinaus. "

     

    die ganze verlogene Logik in einem Satz - Ukraine zu liquidieren (grenzüberschreitender Föderalismus) und die Schuld dafür den Russen und Nationalisten geben.

     

    Mehr kann ein Direktor für Kultur in Deutschland nicht denken?

  • Ein grober Fehler dieser historischen Relativierung ist, dass die Sowjetunion ein Vielvökerstaat war und das heutige Russland nicht der alleinige Schuldige stalinistischen Terrors ist

    Zu aller erst : Welche Bevölkerungsgruppe hat unter Stalin am meisten gelitten? Die Russen selbst.

    War Stalin ein Russe? Nein, war er auch nicht.

    Wie viele Russen waren den letzendlich Amsträger? Außer Andropow, ein paar unwichtigen, und Gorbatschow, waren unter anderem mit Breschnew und Chrustschow selbst zwei Ukrainer dabei.

    Also kann man nach all diesen Fakten von einer alleinigen russischen Schuld sprechen?

     

    Mal davon abgesehen, dass der Autor hier relativiert. Der zweite Weltkrieg ist vorallem eine Schuldfrage und die liegt ganz klar beim faschistischen Deutschland. Nicht die Sowjetunion hat einen Vernichtungskrieg geführt, sondern Deutschland.

    Außerdem kann ich micht daran erinnern, was von weißrussischer oder ukrainischer Unterdrückung während des zweiten Weltkrieges gehört zu haben.

    Und um zu Gauck zurück zukommen. Es ist kein Geheimnis, dass Protestantismus & Faschismus damals in Deutschland Hand in Hand gingen. So war das wohl auch bei Herrn Gaucks Kindheit und daher auch die Russophobie. Darauf lassen sich auch seine Aussagen auffbauen. Nur weil der alte Mann in der SPD ist, macht es ihn noch lange nicht zum Sozialisten, siehe Herr Sarrazin.

    • @Ratax Smirnov:

      "Zu aller erst : Welche Bevölkerungsgruppe hat unter Stalin am meisten gelitten? Die Russen selbst."

       

      Inwiefern haben die Russen denn "am meisten gelitten"?

      Interessanterweise machen es sich viele Russen wie wohl auch Sie es sich einerseits in der Opferrrolle bequem, um im nächsten Moment dann die Schlächter Lenin und Stalin und die UdSSR überhaupt in den Himmel zu heben.

       

      Stalin war kein ethnischer Russe, hat aber die meiste Zeit seines Lebens im russischen Teil der UdSSR verbraucht - auch seine zweite Frau war Russin.

      Chrustschow war Russe aus dem Kursker Oblast.

      Breschnew ist in der Ukraine geboren worden als Sohn russischer Zuwanderer.

  • Wie wunderbar sind Verhandlungen, die nur auf dem Papier stattfinden. Dies hat uns die "ältere Generation" gründlich gelehrt. Indes ist der Hiatus, der sich durch intellektuale (auf der einen Seite) und polit-pragmatische Einlassungen (auf der anderen) ergibt, GRÖßER und Unerträglicher als je zuvor. Dem hat die alte Schule Leggewies nichts hinzu zu fügen.

    Fast satirisch wirkt der Hinweis, dass Gauck beide Rhetoriken auf sich vereinen könnte. Sagen wir: "Was davon übrig blieb...".

    Was davon übrig blieb!

  • Ich habe den Verdacht, Claus Leggewie hat eine etwas idealistische Vorstellung der deutschen Politik. Es ist aber nicht so, dass Deutschland, die EU und die USA die "Guten" sind und andere sich gefälligst deren Auffassungen zu eigen machen sollten.

  • "In der deutschen Politik gibt es zu viele Intellektuelle, die Russland einfühlsam verstehen, in der deutschen Publizistik zu viele RealpolitikerInnen, die einseitig Geschichtspolitik betreiben."

    Leider gehört auch der Autor dieses Artikels, Herr Leggewie, zu diesen einseitig argumentierenden Personen. Beim Lesen hat man an vielen Stellen den Eindruck, dass der Autor nicht alles wichtige sagt, und dass man genauso gut in umgekehrter Richtung argumentieren könnte. Schon der obige Satz ist in solcher Weise unangenehm. Tatsächlich hat man eher den Eindruck, dass die Mehrheit unserer Politiker Rußland eben nicht(!) verstehen.

    • @XXX:

      es gibt immer noch ein Unterschied zw verstehen und Verständnis. Wir verstehen sehr gut was Moskaus "Interessen" sind, aber Heim-ins- Reich- Politik geht definitiv ggn unsere Interessen u die der Ukraine u des Baltikums. Dafür kann es kein Verständnis geben.

      • @ingrid werner:

        Haben Sie eigentlich Belege dafür, daß Rußland die Ukraine (außer der Krim) und das Baltikum "heim ins Reich" holen will? Soweit mir bekannt ist, hat Rußland dies nicht vor, und diese Behauptung wird durch ständige Wiederholung nicht wahrer.

        Mal abgesehen davon ist die Anwendung des Begriffes "Heim ins Reich" aus deutschem Munde gegenüber Rußland eine ziemlicher rhetorischer Fehlgriff.

        • @Der_Peter:

          "Soweit mir bekannt ist, hat Rußland dies nicht vor, und diese Behauptung wird durch ständige Wiederholung nicht wahrer. "

           

          Lt. TAZ vom heutigen Tag hat der russische Ministerpräsident sich dahingehend geäußert, dass "der prorussisch orientierte Osten des Landes (...) nicht in dem von Kiew geführten Staatsgefüge verbleiben" wolle. Aber wenn Sie da natürlich genaueres wissen...

           

          Angesichts solch klarer Aussagen darf man auch rhetorisch mal deutlich werden und auf historische Parallelen hinweisen.

  • Friedliche Koexistenz? Ich glaub der hat zu oft Independece Day gesehen ^^