Debatte Flüchtlingspolitik: Geht fürs Asyl auf die Straße!
Wer eine humanitäre Flüchtlingspolitik will, muss Druck auf Kanzlerin Angela Merkel machen. Nur so löst sie ihr Versprechen ein.
E s kommen jetzt deutlich weniger Flüchtlinge nach Deutschland als noch vor einigen Wochen. Das ist ein guter Moment, um sich Gedanken zu machen, wie es weitergehen soll.
Ulrich Schulte bekannte jüngst in der taz seine Erleichterung darüber, dass weniger Flüchtlinge kommen, und gab seiner Hoffnung Ausdruck, dass das auch so bleibt. Bernd Pickert hielt dagegen, die deutschen Grenzen dürften „nicht geschlossen bleiben“.
Dabei sind sie das gar nicht. Dass so viele Flüchtlinge jetzt in Idomeni festsitzen, weil die Grenze zu Mazedonien zu ist, liegt an den Staaten der Balkan-Route. Selbst wenn Deutschland wollte, könnte es an deren Haltung wenig ändern. Was also kann es tun, was können wir tun?
Solchen konkreten Fragen stellen sich beide Kollegen leider nicht. Der eine klingt wie der Passagier einer Kreuzfahrtjacht, der sich ziert, weitere Schiffbrüchige an Bord zu nehmen, weil dann die Schlange am Büffet länger und die Biobrötchen knapp würden. Der andere meint, man müsse jeden an Bord nehmen, der vorbeisegelt, ohne auf berechtigte Einwände einzugehen: Sind wirklich alle in Not, die um Hilfe suchen? Wie viel Schiffbrüchige kann und will man aufnehmen? Und was, wenn sich darunter auch Terroristen gemischt hätten?
Alles nur Show
Viele Journalisten machen es sich in der Flüchtlingsfrage zu einfach: Erst kritisierten sie, Merkel habe eine „unkontrollierte Massenzuwanderung“ zugelassen und, durch Selfies mit Flüchtlingen, sogar noch befördert. So musste man die Titel von Spiegel und Zeit („Weiß sie, was sie tut?“) im September verstehen. Jetzt halten sie ihr vor, das sei alles nur Show gewesen, und in Idomeni zeige sich ihr wahres, hässliches Gesicht.
Tatsächlich agiert Angela Merkel teilweise opportunistisch. Aber sie hat einen anderen Plan als Populisten wie Viktor Orbán und Horst Seehofer, die sich hinter Mauern und Zäunen verbarrikadieren wollen. Wie weit sie eine Alternative umsetzen kann, hängt auch davon ab, wie die Stimmung im Lande ist – und wie klug die linke Kritik an ihrer Politik ausfällt. Es braucht kein „Konzept links von der Kanzlerin“, wie es Ulrich Schulte fordert. Es reichte schon, wenn sich eine humanitär orientierte Öffentlichkeit sich für jene Teile ihrer Politik starkmachen würde, die unterstützenswert sind.
Ja, das Abkommen mit der Türkei dient auch der Abschreckung. Aber ist es wirklich so falsch, Flüchtlinge, die in Europa ohnehin kein Asyl erhalten würden, wieder in die Türkei zurückzuschicken? Was ist besser daran, sie erst über den Balkan bis nach Deutschland oder Schweden reisen zu lassen, um sie dann – nach abgelehnten Asylantrag – in ihr Heimatland zurückzuschicken?
Kürzlich wurden Flüchtlinge aus Deutschland nach Afghanistan abgeschoben, ohne dass sich nennenswerter Protest dagegen regte. Warum war es so viel schlimmer, als jüngst die ersten Flüchtlinge aus Griechenland wieder in die Türkei zurückgeschickt wurden? Sie hatten kein Asyl in Europa beantragt und sind in der Türkei nicht an Leib und Leben bedroht.
Eine humane Asylpolitik
Im Gegenzug hat sich Europa verpflichtet, eine gewisse Zahl syrischer Flüchtlinge direkt aus der Türkei zu übernehmen. Die ersten davon sind bereits in Deutschland, Finnland und den Niederlanden angekommen. Das ist ein Fortschritt, der kaum bemerkt wird. Denn bislang mussten syrische Familien, die in Deutschland Asyl beantragen wollten, erst bei der Überfahrt übers Mittelmeer ihr Leben riskieren. Eine humanitär orientierte Öffentlichkeit sollte sich dafür starkmachen, dass Deutschland aus Ländern wie der Türkei, Jordanien und dem Libanon per Kontingent eine möglichst große Zahl von Flüchtlingen aufnimmt – möglichst mehrere Hunderttausende!
Andere europäische Länder könnten dabei mithelfen oder nachziehen, je nachdem. Aber Deutschland hat, als bevölkerungsreichstes und wirtschaftlich potentestes Land Europas, ohne Zweifel die Kapazitäten, hier der Vorreiter zu sein. Erfahrungen mit der Aufnahme einer so großen Zahl von Flüchtlingen hat es auch: Es hat in den Neunzigerjahren mehr als zweieinhalb Millionen Aussiedler aus Osteuropa und der ehemaligen Sowjetunion integriert, von den viele Bürgerkriegsflüchtlingen aus dem ehemaligen Jugoslawien ganz abgesehen. Umso kleinmütiger und irrationaler wirkt die „Überforderungs“-Rhetorik von heute.
Die Gewährung großzügiger Kontingente hat den Vorteil, dass man dabei auf die besonders Schutzbedürftigen Rücksicht nehmen kann, auf Frauen, Alte und Kinder – und nicht „nur junge Männer“ nach Deutschland kämen, die von ihren Familien vorgeschickt werden. Außerdem lässt sich so besser kontrollieren, dass keine Terroristen darunter sind – der IS hat einen oder zwei der Attentäter von Paris und Brüssel ja bewusst unter den Flüchtlingstreck gemischt, um die verhasste Willkommenskultur zu sabotieren und Misstrauen zu säen. Eine humane Asylpolitik, die nicht zwischen muslimischen und christlichen Flüchtlingen unterscheidet, ist das beste Mittel gegen den IS und seine Propaganda.
Großzügig Kontingente schaffen
Eine liberale Öffentlichkeit sollte Druck auf Merkel machen, dass sie ihr Versprechen einlöst, möglichst viele Flüchtlinge auf direktem Weg aufzunehmen, und dass sie den Familiennachzug nicht einschränkt, weil dies eine rasche Integration der Flüchtlinge nur behindert. Denn wer kann hier Wurzeln schlagen, wenn er seine Liebsten nicht in Sicherheit weiß?
Dafür würde es sich lohnen, auf die Straße zu gehen und den Slogan „Refugees Welcome“ mit konkreten Forderungen zu füllen. Falsch wäre es, larmoyant die Hände in den Schoss zu legen und darüber zu klagen, dass die Verhältnisse eben so sind, wie sie sind. Oder sich in trügerischer Sicherheit zu wiegen, weil im Moment weniger Flüchtlinge nach Deutschland kommen.
Denn das Problem löst sich nicht in Luft auf, nur weil die Flüchtlinge jetzt wieder aus unserem Blickfeld verschwunden sind. Die Flüchtlinge, die im Schlamm von Idomeni und in den vielen Lagern der Region ausharren, gehen uns alle an. Ihr Los darf uns nicht egal sein. An ihnen entscheidet sich, was die Rhetorik von „europäischen Werten“ wert ist.
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