Debatte Flüchtlinge: Geschichte reimt sich doch
Katastrophenrhetorik, Asylrechtsverschärfungen, Gewalt: Die Parallelen zur Pogromära der Neunzigerjahre sind unübersehbar.
Neben einem quantitativen Anstieg rechtsextremer Gewalt ist vor allem eine Veränderung hinsichtlich der Intensität und Brutalität des Vorgehens zu verzeichnen. Dazu zählt etwa die gestiegene Bereitschaft, sich mit Pistolen, Maschinengewehren und Sprengstoff zu bewaffnen. Auch die lokale Gewalt informeller Gruppen bewegt sich am Rande des Terrorismus. Brandanschläge auf Flüchtlingsheime werden häufig gezielt geplant.“
Die Sätze klingen nach einer ziemlich genauen Beschreibung des Istzustands der Bundesrepublik Deutschland Anfang 2016. Tatsächlich sind sie aber schon mehr als fünfzehn Jahre alt. Sie stammen aus einem wissenschaftlichen Aufsatz der Politikwissenschaftler Hajo Funke und Lars Rensmann und beschreiben Deutschland im Jahr 2000, zehn Jahre nach der Wiedervereinigung. Der Aufsatz heißt „Kinder der Einheit“.
Eine viel zitierte Weisheit, die Studierende der Geschichte für gewöhnlich gleich im ersten Semester über Bord werfen müssen, lautet: Geschichte wiederholt sich. Eben dies tut sie nämlich nicht. Zu komplex sind historische Situationen, zu vielfältig Ursachen, Wirkungen und Gesamtzusammenhänge. Momentan könnte man als Beobachter des Zeitgeschehens jedoch Mark Twain bemühen, der sagte: „Geschichte wiederholt sich zwar nicht, aber anscheinend reimt sie sich.“
Auffällig sind Ähnlichkeiten mit der Flüchtlingsdebatte in den neunziger Jahren. Das fängt an bei allgegenwärtiger Katastrophen- und Flutrhetorik. Wörter wie „Flüchtlingsstrom“, „Flüchtlingswelle“, „Asylflut“ oder „Flüchtlingskrise“ haben Hochkonjunktur. Viele Publizisten und Journalisten verschriftlichen so, wenn auch in Teilen unabsichtlich, die Entmenschlichung einer humanistischen Katastrophe. Fehlt nur noch ein Spiegel-Titel auf dem eine “Das Boot ist voll“-Illustration mit „Ansturm der Armen“ übertitelt wird. Die Parallelen zu den neunziger Jahren gehen aber noch weiter. Etwa bei den konkreten politischen Asylrechtsverschärfungen und einem rhetorischen Brandfackeln der scheinbaren politischen Mitte.
Asylverschärfung legitimiert rechte Gewalt
Da organisieren soziale und christliche Demokraten im sogenannten „Asylpaket II“, dass Geflüchtete aus Syrien keinen Familiennachzug aus den Kriegsgebieten in Anspruch nehmen dürfen. Seehofer und Schäuble üben sich in Rechtspopulismus, Gabriel und Nahles stehen den Konservativen im Zündeln nur wenig nach.
Das traditionellerweise von der NPD bemühte Schreckgespenst der „kriminellen Ausländer“ holte kürzlich sogar Sahra Wagenknecht, Fraktionsvorsitzende der Linken, aus dem Schrank. Bedrohung deutscher Frauen und deutscher Werte – besonders gefragt ist derzeit die rhetorische Abgrenzung dem vermeintlich Fremden gegenüber. „Nach Köln“ ist die Debatte weit nach rechts offen. Und das ist mitunter gefährlicher als voraussehbare Äußerungen der AfD.
Die Parallelen reichen bis zu rechter Gewalt und Terror. Rassistische TäterInnen fühlen sich bestätigt durch die veränderte gesellschaftliche Stimmung in der Flüchtlingsfrage. Wörter eröffnen einen Handlungskorridor, dort setzt rechte Gewalt ein. Doch anstatt zuallererst mit öffentlicher Empörung, konsequenter Verfolgung und Aufklärung von 121 Brandanschlägen auf Unterkünfte für Flüchtlinge im Jahr 2015 zu reagieren, verschärft die Große Koalition zum zweiten Mal das deutsche Asylrecht.
Neonazis begreifen sich mit ihren Taten als Vollstrecker eines Volkswillens. In den stellenweise proklamierten „national befreiten Zonen“ der neuen Bundesländer haben sie damit vermutlich nicht einmal Unrecht. Aus Sicht der TäterInnen werden rassistische Anschläge durch Asylverschärfungen fast schon staatlich legitimiert. Zumal der Verfolgungsdruck nicht gerade hoch ist: Laut Auskunft der Bundesländer sind nur 27 Prozent der Straftaten aufgeklärt.
Polizeipräsident warnt vor Pogromstimmung
2015 gab es nach Angaben des BKA insgesamt 1.027 Straftaten gegen Flüchtlingsunterkünfte. 2014 waren es noch 199. In 13 Fällen ermittelt das BKA wegen Sprengstoffexplosion oder Vergehen gegen das Sprengstoffgesetz, allein neun der Angriffe erfolgten im letzten Quartal 2015.
Neben einer konsequenteren Aufklärung braucht es vor allem klare Sicht in der Debatte: Die „Flüchtlingskrise“ ist keine. Die Aufnahme von hilfsbedürftigen Menschen, die aus einem Kriegsgebiet fliehen, ist in Deutschland historisch gewachsenes Universalrecht, das aus gutem Grund verfassungsrechtlich verankert ist.
Eine „Krise“, das sind geschlossene Grenzen und ein gesellschaftlicher Rassismus, der rechte Gewalt, die sich an Geflüchteten entlädt, rechtfertigt. Pogromstimmung wie in Hoyerswerda und Lichtenhagen zeigte sich im vergangenen Jahr bereits im sächsischen Heidenau. Dort gab es tagelange gewalttätige Ausschreitungen gegen Flüchtlinge und Polizisten. Vor einer „Pogromstimmung“ warnte kürzlich auch der Leipziger Polizeipräsident Bernd Merbitz.
NSU radikalisierte sich unter dem Eindruch der Asyldebatte
Die wachsende Gewalt sollte mit den Mitteln des staatlichen Gewaltmonopols beantwortet werden. Aber nicht mit Gesetzesänderungen. Genau das jedoch tun Bundestag und Bundesrat. Sie spielen damit denen in die Hände, die Aufnahme von Kriegsflüchtlingen als „Krise“ und „Katastrophe“ betrachten. Und sie geben Zynikern recht, die Personen, die spenden, helfen und anpacken, als „linksversiffte Gutmenschen“ diskreditieren.
Einschränkungen des Grundrechts auf Asyl haben aber nicht die Abnahme rechter Gewalt zur Folge. Im Gegenteil: Die Morde von Solingen fanden nach der Asylrechtsverschärfung 1993 statt. Zugeständnisse zementieren nur das Selbstverständnis der extremen Rechten. Schlimmstenfalls beschwören sie einen zweiten NSU herauf, der sich unter dem Eindruck der Asyldebatte der neunziger Jahre und deren Folgen radikalisierte. Lichtenhagen und die nachträgliche Legitimation der Pogrome wirkten dabei wie ein Katalysator.
Kürzlich hat das Innenministerium bekannt gegeben, dass derzeit 372 per Haftbefehl gesuchte extrem Rechte flüchtig sind. Funke und Rensmann warnten schon im September 2000 angesichts gesteigerter Militanz und Gewaltbereitschaft der extremen Rechten ausdrücklich vor einem großen rechtsterroristischen Risiko. Ihr Warnruf verhallte. Im selben Monat begann der NSU das Morden.
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