Das dritte Geschlecht: Mein Leben als „X“
Seit November trägt unser:e nicht-binär:e Autor:in offiziell einen Mischnamen – und hat gemischte Gefühle dazu.
Mein Name ist Tobias. Oder Ray. Oder Rayanne. So genau kann ich das nicht sagen, meine Identität ist schwer in Worte zu fassen. Ich weiß, dass ich mit 16 Jahren vor dem Spiegel stand und das Gewucher in meinem Gesicht nicht ausstehen konnte. Der Sänger Boy George war der Held meiner Jugend. Schon als Baby war ich etwas zarter, noch nie richtig maskulin, und als Kind habe ich wahnsinnig viel gelesen und mit Puppen gespielt. Fußball fand ich doof und Autos halte ich heute wie damals lediglich für praktische Blechdosen auf Rädern. In meiner Abizeitung von 1990 steht, dass ich mit den Jungs gar nicht zurechtkam. Ich hielt mich immer bei den Mädchen auf, wenn sie mich duldeten.
Heute bin ich 54, und 40 Jahre trage ich Tangaslips auf meinem schmalen Becken und wünsche mir feminine Kleidung für meine breiten Schultern. Weibliche Brüste haben mich noch nie interessiert, und mit Anzug und Krawatte fühlte ich mich zwar nobel, aber verkleidet.
Ich bin als Junge geboren und wurde dennoch nie ein Mann. Zumindest nicht das, was die meisten vermutlich meinen, wenn sie von „Mann“ sprechen. Ich bin auch keine Frau. Wie es ist, als Frau in dieser Gesellschaft aufzuwachsen, weiß ich nicht. Ich habe keine Ahnung, wie sich ein pubertierendes Mädchen fühlt oder was es bedeutet, ein Kind auf die Welt zu bringen. Niemals werde ich erfahren, wie es ist, eine Frau zu sein. Zudem bin ich mit einer wundervollen Frau verheiratet, bin Vater von vier großartigen Kindern und einem Stiefsohn.
Was bin ich, wenn ich keine Frau bin und kein schwuler Mann? Wenn ich ganz anders bin als meine männlichen Nachbarn oder die Männer, die ich durch die Stadt laufen sehe? Ich wurde schon für die Mutter meiner besten Freundin gehalten, und das, obwohl ich kein Make-up trug. Die meisten sehen in mir einen femininen Mann. Andere kennen den Ausdruck „nicht-binär“ und bezeichnen mich so. Transe vielleicht? Schwuchtel? Vielleicht bin ich einfach ein Mensch. Darauf könnten wir uns einigen.
Das dritte Geschlecht
Feminine Männer wie mich gibt es seit Menschengedenken. Im alten Mesopotamien vor 4.500 Jahren hießen wir Gala und waren Priester. Bei den Navajo-Indianern heißen wir Nádleehi. Und bei den Zapoteken im Südmexiko nennt man uns Muxes, dort sind wir seit Jahrhunderten gesellschaftlich anerkannt. Eine lange Liste von Kulturen hat ein drittes Geschlecht identifiziert und gesellschaftlich integriert, im Internet gibt es eine Karte davon. In Europa ist es schwierig. In der neapolitanischen Gesellschaft gibt es seit Jahrhunderten die Femminielli, aber ich habe mir sagen lassen, der Begriff besäße im heutigen Italien einen abwertend diskriminierenden Klang.
In Deutschland war die Ampelregierung angetreten, uns Transgenderpersonen einen einfacheren Zugang zu offizieller Anerkennung zu geben. In einem Anflug von Hyperidentitätspolitik hat sie die Koalition für unsere Minderheit ins Feuer gestellt. Jahre hat es gedauert, viele Entwürfe hat es gebraucht, viel Kritik hat das Gesetz einstecken müssen, aber am 12. April 2024 war es so weit: Der Bundestag beschloss ein Gesetz, mit dem ich offiziell ICH sein dürfte. Das Selbstbestimmungsgesetz.
Außerhalb einer winzigen Gruppe versteht zwar niemand, warum ein Mensch seinen Vornamen und Geschlechtseintrag ändern lassen möchte. Dennoch trat das Gesetz am 1. November in Kraft und ich saß vier Tage später vor einem sehr verständnisvollen Standesbeamten, der meinen neuen Vornamen und Geschlechtseintrag beurkundete: Rayanne Tobias, divers. Eine Kombination aus meinem weiblichen Wahlnamen und meinem ursprünglichen Geburtsnamen. Ich erhielt zahlreiche Glückwünsche von Freunden. Ich solle anstoßen, sagten sie. Doch statt nach Champagner sehnte ich mich nach einer warmen Decke und heißer Schokolade.
Bei der Namensänderung muss man unterschreiben, dass der gewählte Name dem Geschlechtsempfinden entspricht und man sich der Tragweite der Entscheidung bewusst ist. Aber kann man ermessen, was es wenige Tage nach Inkrafttreten des Gesetzes bedeutet, mit einem diversen Mischnamen durchs Leben zu gehen? Einerseits freut man sich über die staatliche Anerkennung und ich habe eine vage Vorstellung, wie sich homosexuelle Paare gefühlt haben müssen, als sie nach Jahrtausenden der Diskriminierung endlich heiraten durften. Andererseits ist es für Betroffene schockierend unmenschlich, dass das Selbstbestimmungsgesetz politisch so kompliziert war und in der breiten Bevölkerung Kopfschütteln auslöst.
Du betrittst ein Standesamt, vor dem LGBTQ-Flaggen wehen, und der freundliche Standesbeamte – nicht die Gesellschaft – druckt dir ein hochoffizielles Blatt Papier aus, das dein Geschlechtsempfinden reflektiert. Mit Stempel. Das ist schön. Und traurig zugleich. Denn die Gala oder Nádleehi oder Muxes brauchten nie einen Verwaltungsakt und 72 Euro Gebühr, um Gala oder Nádleehi oder Muxe zu sein. Sie waren einfach sie selbst, und für die Gesellschaft, in der sie lebten, war das eine Selbstverständlichkeit.
Es gibt Länder, die mich mit einem „X“ beim Geschlecht im Reisepass nicht mehr einreisen lassen. Mit einem „M“ wäre es kein Problem, obwohl ich dieselbe Person bin. Andere Länder ließen mich zwar einreisen, aber in eine Polizeikontrolle würde ich dort nicht geraten wollen. In Russland gelte ich seit 2023 offiziell als Extremist und würde wohl im Gulag verschwinden. Weil ich trans* bin. Vielleicht bleibe ich besser zu Hause.
Unsere Hochzeitsreise machten meine Frau und ich nach Marrakesch. Mit meinem „X“ im Pass getraue ich mich nun nicht mehr in diese wundervolle Stadt. Nach Tunesien, Ägypten oder der Arabischen Halbinsel auch nicht. Nicht einmal nach Ungarn würde ich fahren, wo Menschen wie ich als Persona non grata gelten.
Die bröckelnden Demokratien weltweit bereiten mir Sorgen. Die ehemalige Vorzeigedemokratie USA rutscht seit 20 Jahren ab, in Italien, Ungarn und Slowenien regieren Autoritäre, und unsere großen Nachbarn Polen und Frankreich stehen vor sehr schwierigen Wahlperioden. Was würde mit uns in Deutschland unter einer AfD-geführten Regierung passieren? Zögen wie 1938 brandschatzende Trupps durch die Straßen und würden die staatlichen Register nach „Extremisten“ wie mir durchforstet? Gäbe es wieder eine Bücherverbrennung? Und nähme Neuseeland mich auf oder müsste ich ins bankrotte Argentinien fliehen?
Ich habe am 5. November den wärmenden Mantel einer offiziellen Normalo-Identität abgelegt und bekomme sicher keinen Persilschein, wenn die braunen Granden die Machtergreifung ausrufen. Ich bin nun amtlich beurkundet diskriminierbar. Das ist der Schatten, der auf meinem neuen Namen liegt.
Als Jude in Deutschland, als Mensch mit dunklerer Haut, als Rollstuhlfahrer:in und auch als Transperson kennst du die alltägliche Diskriminierung, die dummen Kommentare, die Angriffe, das Getuschel hinter deinem Rücken. Du hast damit zu leben gelernt. Nur kann ich jetzt nicht mehr die Alman-Dad-Klamotte überwerfen, die Ohrringe ablegen, ein bisschen Gel in die Haare schmieren und meinen Männerausweis zeigen. Ich bin keine blonde arische Frau. Ich bin nicht einmal mehr ein alter weißer Mann. Ich bin ein „X“.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Das Recht, ich zu sein
Ich dürfe mich nicht beklagen, „du hast das selbst gewählt!“, sagt man mir. Das stimmt. Ich habe das Standesamt aufgesucht und von meinem Recht Gebrauch gemacht, als ICH anerkannt zu werden. Seit Jahren laufe ich als ICH durch die Straßen meines Heimatortes. Ich trete als ICH in der Öffentlichkeit auf. Und der Bundestag bestimmte, ich dürfe ein „X“ sein und den Namen tragen, den Freunde und Familie seit Jahren ohnehin verwenden. Der Staat gestand mir offiziell zu, authentisch zu sein. Dafür bin ich den Abgeordneten aufrichtig dankbar.
Niemand kann sagen, was die Zukunft bringen wird. Ob am Ende wieder der Hass und die Menschenverachtung mit Fackeln durch die Straßen zieht oder die pluralistische Demokratie stark genug ist, die nächsten Jahrzehnte Krieg, Rezession, sinkende Reallöhne, Flüchtlingsströme, Klimawandel und Hetze zu überdauern. Meine Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt ist auch ohne Reisepass offensichtlich, und diejenigen Wildfremden, die mir Flüche hinterherrufen oder mich auf der Straße böse anfunkeln, tun dies auch ohne Blick in meinen Ausweis.
Ich denke an die Worte von Theodore Roosevelt. Er hielt 1910 in Paris eine berühmte Rede zur Rolle des Bürgers im Staate. Roosevelt sagte: „Der mutige Bürger wird sich selbst Freiheit zugestehen und stolz dafür sorgen, dass auch andere die Freiheit erhalten, die er selbst beansprucht.“
Vielleicht geht es am Ende genau darum. Vielleicht ist meine Rolle, durch mein Privileg persönlicher Freiheit in einem der ganz wenigen noch freien Länder dieser Welt andere Menschen zu inspirieren, ihren Weg zu gehen. Jede einzelne mutige Handlung kann dazu beitragen, die Welt wieder ein bisschen menschlicher zu machen. Vielleicht ist Authentizität die Superkraft einer „X“-Superheld:in, die uns am Ende erlaubt, Brücken zu bauen und Veränderungen anzustoßen, die auch anderen Menschen Hoffnung geben. Und genauso, wie es Menschen gibt, die mich ohne mein Einverständnis als Kuriosum in der S-Bahn fotografieren, gibt es auch Fremde, die auf mich zugehen und spontan fragen, ob sie mich umarmen dürfen.
Ich bin Ray, 54 Jahre alt, verheirateter Papa und ein femininer Mann wie Millionen andere vor und nach mir. Und für mich drückt eine spontane Umarmung mehr Menschlichkeit, Solidarität und Akzeptanz aus als alle offiziellen Stempel dieser Welt.
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