Das Lachgas ist zurück: Haha, na klar, Sahne
Großmutter, warum hast du so große Sahnesprüher? Damit die Enkel das Lachgas einatmen können! Die erstaunliche Karriere eines Betäubungsgases.
Hach, Kaffeekränzchen, was gibt es Schöneres. Die Familie versammelt sich um Omas selbst gestickte Spitzentischdecke, dann wird das gute Wildrose-Geschirr aus dem Schrank geholt und der selbst gebackene oder noch fix besorgte Kuchen drapiert. Und oben drauf, na klar, ein ordentlicher Löffel Schlagsahne! So oder so ähnlich müssen die Nachmittage etlicher junger Leute aussehen. Jedenfalls, wenn man einmal hochrechnet, wie viele Kartuschen und Flaschen Treibgas zum Sahneschäumen zurzeit verkauft werden, in den Spätis, Kiosks, Shisha-Bars und den etlichen Onlineshops natürlich.
„The bigger, the better! Get excited, get exotic!“, heißt es in einer Werbung für absurd große Gasflaschen. Im Spot tanzen zwei Pärchen am Strand, in weißen Leinenklamotten, mit Drinks in den Händen und einem großen Obstkorb an der Liege. Sahne ist da zwar keine zu sehen, Gaskartuschen aber schon. Und natürlich die beworbenen Vier-Liter-Flaschen Gas, in den Geschmacksrichtungen Mango, Melone, Erdbeer, Kokos. Damit ließe sich locker eine Badewanne voll Sahne schäumen.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Wer um alles in der Welt braucht so viel Schlagsahne? Natürlich niemand. Selbst wenn: Die Flaschen hätten nicht einmal den richtigen Aufsatz, um einen Sahnespender anzuschließen. Für Luftballons hingegen sitzt das Ventil perfekt. Denn das Treibgas, um das es hier geht, ist Distickstoffmonoxid, kurz N2O, besser als Lachgas bekannt. Und Lachgas berauscht.
Es zischt aus der Flasche und bläht den gelben Ballon mit dem aufgedruckten Smiley auf. Tief ausatmen, den gefüllten Ballon ansetzen, Lippen zusammenpressen, sanft lösen. Der Ballon schrumpft, ein süßlicher Geschmack passiert die Zungenspitze, die Lunge füllt sich. Sie nimmt es überhaupt nicht krumm, dass kein bisschen absorbierbarer Sauerstoff reinkommt, der Atemzug scheint wie jeder andere.
Von einem Zug wird man aber noch nicht high. Deshalb der Trick mit dem Ballon. Man muss das inhalierte Gas zurück in den Ballon pusten. Gas ausatmen und wieder einatmen, ausatmen und wieder rein damit. Zug für Zug dringt das Gas in die Lungenbläschen, der Ballon wird kleiner. Dreimal, viermal, dann fängt es allmählich an zu scheppern. Augen zu, fünf, sechs, sieben, und zoom, schon kommen wir der tatsächlichen Freizeitgestaltung näher. So viel zum Kaffeekränzchen.
Alles hallt und kreiselt. Das Gesicht kribbelt, hinter den Augenlidern flimmert es. Nicht wirklich psychedelisch wild, eher so, als ob man zu schnell aufgestanden sei. Der Körper ist in Watte gepackt, das Universum dreht sich, die eigenen Sinne schlurfen träge hinterher. Geräusche bauen sich zu kolossalen Soundkulissen auf, dazwischen die Wortfetzen vertrauter Stimmen, schon zischt der nächste Ballon. Ein paar Sekunden später ist alles vorbei, bevor man überhaupt merkt, dass man weg war.
Das Lachgas-Revival
Lachgas ist zurück. Schon wieder. Es rauscht aus den Ballons über die Kapillaren ins Blut und von dort ins Zentrale Nervensystem, um die Nervenrezeptoren zu blocken und ein leicht taubes bis euphorisches Gefühl mit leichten auditiven Halluzinationen hervorzurufen. Ein Sekunden-High, das schon vor Ewigkeiten auf Jahrmärkten zur Belustigung verkauft wurde. Ein kurzer Rausch, der auch in den Neunzigern immer wieder mal ein Gag auf Technopartys war.
Und heute: Laut dem Frankfurter Centre for Drug Research haben 17 Prozent der befragten Jugendlichen schon einmal Lachgas inhaliert, 6 Prozent von ihnen erst kürzlich. Höhere Quoten erreichen nur Alkohol, Tabak und Cannabis. „Lachgas ist schon immer mit einigen Prozentpunkten Teil unserer Befragung“, erklärt Leiter Bernd Werse. „Die aktuellen Werte dazu sind aber schon deutlich erhöht. Auffällig ist auch die Zahl derjenigen, die anscheinend regelmäßiger konsumieren.“ Die Frankfurter Studie ist die einzige, die gezielt nach dem Konsum von Lachgas fragt. Daten aus ganz Deutschland und jenseits des Schulhofs gibt es bislang nicht.
Über die Gründe für den neuen Lachgastrend lässt sich daher nur mutmaßen. „Es hat wohl einerseits damit zu tun, dass das Thema häufig auf Social Media verbreitet wird“, sagt Werse. „Vor allem aber, weil sich der Markt verändert hat. Früher wurde aus kleinen Sahnekapseln konsumiert. Das war mit viel Aufwand verbunden. Heute ist der Konsum viel leichter.“
Lachgas als kurzer Kick ist steinalt. Neu sind die Werbung, das Marketing, die HipHop-Clips mit den Ballons, die Tiktok-Videos von Ballonpartys, der Verkauf der großen N2O-Flaschen, die unverhohlene Vermarktung zum Zweck der Berauschung.
Lachgas findet seine Anwendung in vielen Bereichen. Den Verpackungen der quasi überall erhältlichen Flaschen und Kapseln ist zu entnehmen: Die Lebensmittelindustrie erzeugt damit Schäume. Das Gas ist fettlöslich, ungiftig und somit ein anerkannter Lebensmittelzusatzstoff mit dem Kennzeichen E 942. Wenn sich die Kids also inoffiziell begasen, dürfen sich die Treibgashersteller offiziell entzückt zeigen ob des absurd gestiegenen Sahneaufschäumbedarfs.
In der Kfz-Tuningszene und im Raketenbau erfüllt N2O oder auch Nitro einen weiteren Zweck: Das N2, also Stickstoff, hält ein zusätzliches O bereit, also Sauerstoff, der sich bei hohen Temperaturen löst und verbrannt werden kann. Eine Lachgaseinspritzung steigert so die Leistung eines Verbrennungsmotors.
Und schließlich ist Lachgas auch ein Betäubungsmittel, das sich, sinnvoll dosiert, in der Medizin einsetzen lässt. N2O beruhigt Angstpatient*innen und wird in Zahnarztpraxen zur schonenden Sedierung benutzt, insbesondere bei Kindern. Auch in der Geburtshilfe ist Lachgas seit Jahrzehnten ein bewährtes Mittel.
In höheren und regelmäßigeren Dosen eingenommen, gefährdet das Gas die Gesundheit. Neurolog*innen warnen, dass der kurze Rausch Nerven- und Organschäden verursachen kann. „Bei Überdosierung, insbesondere durch Mischkonsum, kommt es zur Benommenheit bis hin zur Narkose und zerebralen Krampfanfällen“, sagt Tanja Brunnert vom Berufsverband der Kinder- und Jugendärzt*innen. „Bei chronischem Gebrauch von mehr als fünf bis zehn Kapseln im Monat kann sich ein schwerer Mangel von Vitamin B12 bis hin zur Querschnittslähmung entwickeln.“ Fünf bis zehn Kapseln entsprechen fünf bis zehn Ballons. Die Flaschen, die aktuell verkauft werden, füllen bis zu 100 Ballons. Die Überdosierung und der Vitaminmangel sind quasi inklusive.
Doch weil Lachgas eben auch jenseits des Kicks ziemlich praktisch und nützlich sein kann, lässt es sich kaum unter das Betäubungsmittelgesetz fassen. „Eine Reglementierung ist schwierig“, sagt Tanja Brunnert. „Man könnte dafür sensibilisieren und hoffen, dass die Abgabe nur in haushaltsüblichen Mengen erfolgt.“
Einige Länder mit bedenklichen Konsumquoten bemühen sich trotzdem um Beschränkungen. Im US-Bundesstaat New York wurde der Verkauf von Sprühsahne an Minderjährige gesetzlich verboten. Das war’s dann mit der Extraschlemmerei bei Kaffee und Kuchen für alle unter 21. In Dänemark ist Sahneschäumen in Schulen, Einkaufszentren und auf der Straße verboten. Im Vereinigten Königreich ist der Lachgasflash nur noch für Mediziner*innen und Gastronom*innen erlaubt. In den Niederlanden kann man schon seit einem Jahr nur noch die kleinen Patronen kaufen.
Ein leicht erhältlicher Kick
In Deutschland bleibt Lachgas ein kinderleicht und auch in großen Flaschen erhältlicher Kick. In Parks und auf Schulhöfen liegen unzählige Kapseln und Ballons herum, im Netz kursieren „Voll auf N2O“-Videos, die Rapszene feiert den superkurzen Rausch. Dort ist hier und da zu hören, dass Unmengen Lachgas doch nicht ganz so harmlos sind. Der Rapper Haftbefehl brach zusammen, nachdem er monatelang 50 Flaschen am Tag weggezogen haben soll. Sein Kollege Capital Bra berichtet, seine Lunge sei mit einer Thrombose kollabiert.
Immerhin hebt die erleichterte Konsumform aus den großen Flaschen die unmittelbare Verletzungsgefahr auf. Das unter Druck zur Flüssigkeit komprimierte Gas verdampft bei knapp minus 90 Grad und friert seine Umgebung ein, wenn es entweicht. Die Gefahr: angefrorene Finger, gefrierverbrannte Lippen, Eislunge. Deshalb musste unsereins früher die kleinen Sahnekapseln aus dem Supermarkt in Handschuhen aufhämmern. Die Kids von heute würden sich totlachen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Kampf gegen die Klimakrise
Eine Hoffnung, die nicht glitzert
Altersgrenze für Führerschein
Testosteron und PS
Angeblich zu „woke“ Videospiele
Gamer:innen gegen Gendergaga
Haldenwang über Wechsel in die Politik
„Ich habe mir nichts vorzuwerfen“
Zweite Woche der UN-Klimakonferenz
Habeck wirbt für den weltweiten Ausbau des Emissionshandels