piwik no script img

Das Aiwanger-ProblemNormal nur unter Rechten

Wie kommt Aiwanger dazu, das Flugblatt als Jugendsünde zu verkaufen? Wir haben uns das Märchen von der Erinnerungskultur selbstverliebt erzählt.

Aiwanger mit einem Wanderfalken beim Schloss Schleißheim, 3.9.2023 Foto: Matthias Balk/dpa

E s aiwangert – das müsste ein neues Wort werden. Was genau es bedeutet, wird noch herauszufinden sein. Klanglich liegt es irgendwo zwischen „rum­eiern“ und „a weng.“

Ich wusste anfangs nicht, wie die ganze Causa Aiwanger einzuordnen ist. Soll jemand wegen seiner Fehler als junger Mann später seinen Posten verlieren? Der Irrtum dieser Aiwanger-Causa ist jedoch, sie überhaupt auf diese Frage zuzuspitzen, weil sie moralisch die einfachste ist, weil Aiwanger durch sie am besten aus der Misere zu holen ist.

Dabei wird das individuelle, ungewöhnliche Vergehen Aiwangers zu einer allgemeinen Frage, Aiwanger damit zur potenziellen Identifikationsfigur. Dank dieser Zuspitzung konnte Söder sein 25-Fragen-Spiel spielen, denn letztlich will kaum jemand, dass die Jugend keine Fehler begehen darf. Wie bequem für die beiden, dass sich weite Teile der Öffentlichkeit auf diesen ­Argumentationsgang eingelassen haben.

Söders dicke Hose

Andere Fragen wären schwieriger gewesen: Ist Aiwanger seiner Verantwortung gewachsen? Besitzt er die politische Integrität? Natürlich würde Markus Söder seinen Königsmacher Aiwanger im Wahlkampf nicht fallen lassen, sonst müsste er ab Herbst womöglich mit einer Frau wie Katha Schulze koalieren, wo ließe Söder da nur die dicke­ Hose?

Welche Geistesverfassung hatten die Brüder Aiwanger und wie haben sie da herausgefunden?

An der Causa Aiwanger zeigen sich Probleme der politischen Kultur in unserem Land, und es ist eine Meisterleistung von Aiwanger und Söder, mit der Frage nach der Jugendsünde von all diesen Problemen abgelenkt zu haben. Ich schreibe „Aiwanger“ vor „Söder“, weil Söder hier dem Aiwanger dient und nicht dem Land Bayern. Ein Ministerpräsident von Aiwangers Gnaden war er, ist er und wird er sein, darauf konnte Aiwanger sich ausruhen.

Die Causa Aiwanger zeigt: In Deutschland haben wir uns das Märchen von der Erinnerungskultur selbstverliebt erzählt, dabei ging es immer eher um die Rituale und nicht darum, nie wieder jemanden nach oben kommen zu lassen, der nicht integer genug ist. Statt darüber zu reden, welcher der Brüder das Flugblatt verfasste, hätte man fragen sollen: Welche Geistesverfassung hatten die Brüder Aiwanger, wenn sie Antisemitismus lustig fanden, und wie haben sie da herausgefunden? Wie kommt Aiwanger zum Urteil, so etwas als normale Jugendsünde einzuschätzen? Normal wäre so ein Blatt nur unter Rechtsextremen.

Für heute entschuldigen

Müsste er heute nicht von Beginn an den Anstand besitzen, sich nicht nur glaubwürdig für damals zu entschuldigen, sondern auch für heute? Dafür, dass heute auch nur ein Überlebender oder Nachfahre von Holocaust-Überlebenden damit konfrontiert wird? Stattdessen spottet er im Bierzelt in Gillamoos bereits über Lehrer, die Hausaufgaben von Schülern kopieren. Niemand hatte dieses Flugblatt damals als Hausaufgabe aufgegeben, schon damals war seine Haltung ein Problem.

Wie viele Menschen wussten von der Vergangenheit der Brüder Aiwanger – weshalb hat niemand vorher öffentlich Fragen gestellt? Wie kann es sein, dass Markus Söder sich als Politiker für Kanzlermaterial hält, aber nicht einmal in Bayern in der Lage ist, eine Mehrheit ohne seinen umstrittenen Koalitionspartner zu schaffen? Markus Söder hat sich entschieden, ihn nicht zu entlassen.

Es ist vermutlich richtig. Charlotte Knobloch hat in einem bemerkenswerten Interview im Deutschlandfunk betont, Söders Entscheidung sei zu akzeptieren. Nichts länge mir ferner, als Knoblochs Aussage zu bewerten, ich versuche zu verstehen, zu lernen. Schmerzhaft war der Moment, in dem sie sagte, es wäre eine größere Katastrophe, wenn Söder ihn entlassen hätte und Aiwanger trotzdem bei der Landtagswahl im Oktober gestärkt worden wäre. Die Realität, die sie mitdenkt, sind folglich bayrische Mitbürgerinnen und Mitbürger, die mehr Empathie mit dem jungen Aiwanger haben könnten als mit den Überlebenden des Holocaust.

Falsche Führungskultur

Das Bittere: Aiwanger könnte so oder so bei den Landtagswahlen im Oktober belohnt werden, weil ihm und Söder gelungen ist, die Geschichte als Spin über die Freiheit der Jugend zu erzählen, statt darüber, wie er Abstand fand zum Antisemitismus und ob er heute ein Demokrat mit Format ist. Aiwanger triumphiert in Tweets nach Söders Entscheidung, während Charlotte Knobloch ringen und abwägen muss. Sein größter Sieg: Am Ende greifen fast alle Knobloch an.

Wir sollten die Causa Aiwanger als Gelegenheit nutzen, zu fragen, welchen Persönlichkeiten in Deutschland Macht zugetraut wird und warum. Was ist Kompetenz in diesem Land und wem wird sie zugeschrieben? Jene, die Aiwanger auf seinem Weg nach oben geholfen haben, müssen sich fragen lassen, warum sie ihn für qualifiziert genug für eine herausragende gesellschaftliche Positionen halten. Jene, die ihm schon lange misstrauten, müssen sich fragen, lassen, weshalb sie Erding brauchten, um ihn für sein Demokratieverständnis zu kritisieren.

Hätte man ihn nicht schon früher öffentlich herausfordern und die Debatte suchen müssen? Wenn das mit dem Flugblatt einigen schon 2008 bekannt war, welche Werte haben die Mitwisser um Aiwanger herum, die dennoch sagen: Der Aiwanger kann’s, für den Aiwanger arbeite ich?

Weiblich, jung und divers?

Es geht in der Causa Aiwanger um die Frage, ob in unserer Gesellschaft eine Führungskultur verankert ist, die Persönlichkeiten belohnt, deren unbedingter Machtwille die prägendste ihrer Eigenschaften ist. Markus Söder steht schützend hinter Aiwanger. Die Dominanzkultur, die schon Franz Josef Strauß verkörperte, gewinnt im Jahr 2023 und ekelt viele, die unsere Demokratie bräuchte, aus der politischen Alltagsarbeit heraus.

Nicht zufällig gelingt es Parteien auf kommunaler und Länderebene kaum, merklich weiblicher, jünger und diverser zu werden. „Es aiwangert“ könnte letztlich heißen, man sitzt als mittelmäßiger Machtmensch fest auf seinem Stuhl und weiß, ein noch mächtigerer Mann wird diesen Stuhl festschrauben, ganz gleich, wie hoch der Preis.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

17 Kommentare

 / 
Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • 9G
    95820 (Profil gelöscht)

    Ein guter Kommentar. - „Am Ende greifen fast alle Knobloch an.“ Alle? Bei „wir“ und „alle“ schließe ich mich grundsätzlich aus.



    Es war die ärgste Ungeheuerlichkeit von Söder, jüdische Organisationen und Mitbürger*innen öffentlich indirekt in die Pflicht zu nehmen zur „Resozialisierung“ des Aiwanger Hubert. Ich habe Hochachtung davor, wie Charlotte Knobloch und Josef Schuster mit der Angelegenheit bisher umgegangen sind. „Unangemessen“ war die härteste Beschimpfung, die ich von Josef Schuster gehört habe. Knobloch und Schuster sind sich vermutlich bewusst, was sie auslösen würden, wenn sie stärkere Formulierungen benutzt hätten. Dann hätte der latente Antisemitismus womöglich die Maske abgelegt.



    @AJUGA: Dass Frau Knobloch für die CSU an der Bundesversammlung 2009 teilgenommen hat, sehe ich in diesem Falle nicht als Grund für ihre Zurückhaltung. Ist sie Mitglied einer Partei?

  • Sehr treffender Kommentar, es geht nur um das Bild in der Köpfen, hier der joviale Söder, der völlig frei von Schamgefühl heute dies und morgen das sagt, auf den sich niemand wirklich verlassen kann, weder politische Freunde, noch Gegner, noch Wähler. Der aber erstaunlicherweise immer noch ankommt, obwohl er seit seinem Antritt keine einzige Wahl hat gewinnen können. Dort der wütende Provinzpolitiker Aiwanger, grobschlächtig, das Herz aber am rechten Fleck, der gegen den Mief und Mist der Poltikerkaste anaiwangert.

    Beide berühren traurigerweise twas in den Menschen, niemand fragt nach Kompetenz und Integrität, das kräftige Hauen auf den Tisch zählt, dazu a Moaß und a Brezn. Es sind, mit Abstrichen, die gleichen Mechanismen, die immer wieder funktionieren, seien es Erdogan oder Trump, seien es Orban oder die AfD-Führungsriege.

    Bilder in die Köpfe, Gefühle an, und schon ist es fast egal, was man sagt.

    Und trotzdem nochmal ein herzliches Dankeschön an Armin Laschet (völlig ironiefrei), dass uns zumindest diesmal der Söder im Kanzleramt erspart geblieben ist.

  • 6G
    682011 (Profil gelöscht)

    Vielleicht bin ich ja wirklich zu naiv, um diesen Sachverhalt zu verstehen, aber Aiwanger hat von Anfang an - auch in dem von ihm beantworteten Fragenkatalog - darauf verwiesen, dass sein Bruder das "Flugblatt" verfasst habe. Nun kann es natürlich sein, dass er lügt und sein Bruder ihn deckt - aber es kann auch sein, dass es tatsächlich so war. Und nun? Verurteilt man ihn jetzt einfach trotzdem und ignoriert, was er dazu sagt? Man möge mir das bitte mal erklären.

  • Es bringt nichts, sie beurteilen Aiwangers Minderjährige Tat trotzdem im Bezug auf den heutigen Aiwangers. Das mag ihnen aus ihrer heutigen Perspektive korrekt erscheinen und ist es trotzdem nicht.

    Letztlich hilft es nur Aiwanger aus seinem heutigem Handeln zu beurteilen.

    • @insLot:

      Und dieses Handeln ist intransparent, würdelos und selbstviktimisierend.



      Ein "Ja, das habe ich gemacht, mir war damals nicht klar, warum das nicht in Ordnung ist. Heute sehe ich das anders, weil..." wäre ein transparenter, offener und ehrlicher Umgang. Den lässt er aber vermissen. Weil ihm die Opfer seiner Großelterngeneration egal sind.

  • Sehr gute Analyse. Vollste Zustimmung. Danke für die Ausführungen.

  • "aiwangert" ist die politische Steigerung des "Peter-Prinzips" :In einer bürokratischen Hierarchie wird jemand solange befördert bis er seine Stufe der Inkompetenz erlangt/erfüllt.



    Politisch: Die bekannte inkompetenz wird solange gewählt/nominiert bis der größtmögliche Schaden erreicht wird/ werden kann.



    Weitere Beispiele für "es aiwangert" : Andy Scheuer, Ursula von der Leyen, Frau Yellen, Sarrenzin und der Ex-BfV Chef dessen Namen dem vergessen anheim fallen soll.

  • Es ist besorgniserregend, wie brüchig inzwischen die Demokratie in Deutschland geworden ist. Es ist bedenklich, wie leicht die Menschen zufrieden zu stellen sind. Mir scheint, es ist den Leuten zu anstrengend nachzudenken, zu hinterfragen, kritisch zu sein, sich ein eigenes Urteil zu bilden. Stattdessen wird 'geschluckt' was vorgesetzt wird. Von einem Politiker erwarte ich mehr. Das Bewusstsein dafür, wofür er steht, was und wen er vertritt und nicht nur der Macht wegen das Amt auszuführen.

  • "Nichts länge mir ferner, als Knoblochs Aussage zu bewerten, ich versuche zu verstehen, zu lernen."

    Das ist ganz einfach zu verstehen: Charlotte Knobloch ist CSU-Delegierte in der Bundesversammlung. Die ist Team Söder.

  • "Welche Geistesverfassung hatten die Brüder Aiwanger, wenn sie Antisemitismus lustig fanden, und wie haben sie da herausgefunden? Wie kommt Aiwanger zum Urteil, so etwas als normale Jugendsünde einzuschätzen? Normal wäre so ein Blatt nur unter Rechtsextremen."

    Bingo.

    • @Ajuga:

      Erstens ist überhaupt nicht klar, ob die Aiwangers Antisemitismus oder die Nazi-Verbrechen an sich lustig fanden. Und zweitens kann man aus dem Flugblatt keine grundsätzliche "Geistesverfassung" herauslesen, denn NS-Witze waren in den 80ern an Schulen gang und gäbe. Wieso das so war, müsste man mal genauer untersuchen, aber es war eben so, ich kann's bezeugen.

      Man kann Aiwangers Rechtspopulismus ("Wir holen uns die Demokratie zurück!") ja gerne kritisieren, ihn aber für eine ausgeprägte Unreife von vor über 35 Jahren zur Verantwortung zu ziehen, ist einfach nur niederträchtig.

  • Solange damit die dauergrinsende Schulze (hat der jemand ins Knie geschossen?) verhindert wird, ist mir alles recht.

  • Danke dafür.

  • Chapeau, kann für jedes Wort unterschreiben. Noch ist Zeit bis zur Wahl, die Absurditäten - die schon thematisiert wurden: "Der pöbelnde Politiker" bei youtube z.B. - sorgfältig und öffentlichkeitswirksam bekannt zu machen, um den Herrn nicht wegen seiner wie auch immer gearteten Jugend, sondern seiner derzeitigen Demagogie zu outen. Immerhin ist er und will bleiben, der Vize eines Landes, das größer als viele Länder Europas ist - es sind genau 26, wenn man die mit weniger als einer Million weglässt-. Also ist der Herr eine Schande für Deutschland; die Lüge kommt so unverfroren aus seinem Munde wie die Aufklärung dort nicht herkommt.

  • Eine der besten Kolumnen, die ich in dem Zusammenhang gelesen habe.

    Die jüdischen Gemeinschaften etc. müssen sich (wieder) der Gewissenlosigkeit beugen - unerträglich!

  • Sehr guter Artikel m. E. Vielen Dank dafür!

    • @Fallmanagerin:

      Anschließe mich.



      //



      Wie kann es sein, dass Markus Söder sich als Politiker für Kanzlermaterial hält, aber nicht einmal in Bayern in der Lage ist, eine Mehrheit ohne seinen umstrittenen Koalitionspartner zu schaffen? Markus Söder hat sich entschieden, ihn nicht zu entlassen.



      /



      Vielleicht sagt er nach Wahl entsetzt:



      "Ich hab auf 'totes Pferd' gesetzt".



      Die Grünen dann flugs zu hofieren,



      tät er sich wohl auch nicht genieren.