Das „Afghan Girl“ Sharbat Gula: Fetischisierung des Elends

Sharbat Gula, das „Afghan Girl“ des „National Geographic“, wurde als Werbefigur instrumentalisiert. Ihre Evakuierung nun zeigt: Asyl ist käuflich.

Portrait einer Frau mit blauem Kopftuch

National Geographics „Afghan Girl“ Scharbat Gula 2016 Foto: Hedayatullah Amid/Epa

Bilder von hysterischen Massen, die Flugzeugen auf der Landebahn hinterher­eilen, gingen viral. Und Bilder von Menschen, die aus überfüllten Maschinen auf den Asphalt stürzen. Im Aufruhr um den amerikanischen Abzug aus Afghanistan und die rasche Landnahme durch Taliban-Truppen vergangenen Sommer sind Zehntausende Vertriebene in einer hastig improvisierten Luftbrücke aus Kabul evakuiert worden. Im Zuge dieser Ereignisse hat sich Steve McCurry, renommierter Fotojournalist, persönlich berufen gefühlt, eine angemessene Antwort auf diese humanitäre Krise zu finden.

In einem Instagram-Post Ende November verkündete McCurry eine frohe Botschaft: „Meine Schwester Bonnie und ich sind hocherfreut, bekannt geben zu dürfen, dass es uns mit der britisch-amerikanischen Charityorganisation Future Brillance und ihrer Gründerin, Sophia Swire, sowie der Unterstützung der italienischen Regierung und der gemeinwohlorientierten NFT-Plattform Metagood gelungen ist, die Symbolfigur afghanischer Geflüchteter, Sharbat Gula, in Sicherheit zu bringen.“

Ebenso Ende November teilte der Amtssitz des italienischen Ministerpräsidenten Mario Draghi mit, dass die heute 49-jährige Sharbat Gula von der italienischen Regierung aus Afghanistan nach Rom evakuiert worden sei. Hilfsorganisationen hätten zuvor den Wunsch Sharbat Gulas, Afghanistan zu verlassen, an die Regierung übermittelt.

In der gutgemeinten Aktion, die als Beispiel für die wohltätige Schaffenskraft privater Unternehmen gefeiert wurde, lauert ein politischer Präzedenzfall, der aufhorchen lassen sollte: Asyl ist käuflich. Zumindest für Geflüchtete, die als Werbefiguren instrumentalisiert werden.

Für ihre Anonymität bekannt geworden

Schnell beantwortet ist dabei die Frage, warum McCurry in dieser Sache zur Tat schritt. Bevor Sharbat Gula das Interesse von Unternehmen, Regierungen und Wohlfahrtsverbänden auf sich zog, war sie vor knapp vierzig Jahren für ihre Anonymität bekannt geworden: als ihr Konterfei auf dem Titel eines Magazins mit Millionenauflage landete. Der sowjetisch-afghanische Krieg war auf seinem Höhepunkt und McCurry im Land, um die Brutalität des Konflikts festzuhalten, als er 1984 im Flüchtlingslager Peschawar in Pakistan ein improvisiertes Schulzelt für Mädchen betrat. Hier kam es zur Begegnung, aus der sein weltweit verehrtes Meisterwerk hervorgehen sollte.

„Ich erinnere mich an den Lärm und das Durcheinander in dem Flüchtlingslager“, schreibt McCurry später. „Mir war klar, dass sich afghanische Mädchen, wenige Jahre entfernt davon, hinter einem traditionellen Schleier zu verschwinden, eher ungern von einem Mann aus dem Westen ablichten lassen würden.“ Der Mann aus dem Westen tat es trotzdem (angeblich mit der Erlaubnis der Lehrerin) und verlieh einem dieser bald verschwindenden Mädchen damit ewige Sichtbarkeit. Er schoss ein paar Fotos von der Schülerin, die er für die allerschüchternste hielt. Ihr bannendes Porträt ging schlichtweg als „Afghan Girl“ in die Geschichte ein – nach ihrem Namen war nicht gefragt worden – und erschien im Juni 1985 auf der Titelseite von National Geographic.

Ohne Kenntnis oder Zustimmung der Abgebildeten

Es war eine weltweite Sensation. Seither ist das Motiv auf zahllosen Plakaten, T-Shirts und Tragetaschen verkauft worden, ohne Kenntnis oder Zustimmung der Abgebildeten, die ihrerseits in den Ikonenstand erhoben wurde. Weil sie niemand war, konnte sie jede sein. In einem National-Geographic-Artikel, der sich an einer Bildinterpretation versucht, heißt es: „Meergrün sind ihre Augen. Sie sind heimgesucht und heimsuchend, und es lässt sich aus ihnen die Tragik eines vom Kriege ausgezehrten Landes lesen.“

Entschuldigt man einmal den orientalistischen Tonfall, so bleibt doch mindestens fragwürdig, wie hier das Menschsein einer Person an ihrer Symbolträchtigkeit gemessen wird. Die Fetischisierung des Elends aber ist profitbedingt. Die Darstellung von Leid ist offenbar mehr wert als die Infragestellung seiner Ursachen. Insofern ist die kommerzielle Ästhetisierung von Gewalt nichts weniger als selbst eine Form von Gewalt.

McCurry schlägt Kapital aus seiner Kunstfigur

Während das afghanische Mädchen als namenlos gilt, macht sich McCurry einen Namen als angesehener Fotograf. Er schlägt Kapital aus seiner Kunstfigur und stellt ihr Bildnis in ganz Europa und den USA zur Schau. Mehr noch: Signierte Abzüge des Fotos kommen in angesehenen Auktionshäusern für knapp 180.000 Dollar das Stück unter den Hammer. Siebzehn Jahre nach der ersten Begegnung von McCurry und Sharbat Gula, als die US-Regierung die Rechte afghanischer Frauen zum Mitgrund für die Invasion erklärte, lebte das Interesse am Schicksal des jungen Mädchens von Neuem auf.

Und so kehrte McCurry, gewappnet mit Kamera-Team und Medienrummel, zurück in das arme Land, das ihn so reich gemacht hatte, auf der Suche nach seinem nun gealterten geistigen Eigentum. Das Wiedersehen wird festgehalten in der von National Geographic produzierten Dokumentation mit dem Titel „Search For The Afghan Girl“. Es wirkt befremdlich. Der bemühte Versuch, der Existenz einer minderprivilegierten Frau einen geheimnisvollen Anstrich zu verpassen, lässt die Doku ziemlich herablassend wirken. „Namen haben Macht, darum lasst uns von ihrem sprechen“, heißt es im Begleitartikel in jener Zeitschrift, die das Mädchen als humanitären Sozialfall dargestellt und ihm damit seine Humanität aberkannt hat.

„Augen brennen vor Wildheit“

„Ihr Name ist Sharbat Gula und sie stammt aus dem kriegerischsten der afghanischen Völker, den Paschtunen. Von den Paschtunen heißt es, sie fänden Frieden nur, wenn sie sich im Krieg befinden, und ihre Augen brennen – damals wie heute – vor Wildheit.“ Sharbat Gula selbst ist da ganz anderer Meinung. Noch im selben Interview sagt sie, sie habe sich ihr Leben lang niemals sicher gefühlt. Das bedeutet zum einen, dass ein völlig verzerrtes Bild davon, wer Sharbat Gula ist, gezeichnet und ihr Schmerz mutwillig verklärt wurde.

Zum anderen legt es noch Ärgeres nahe: Wenn Sharbat Gula in Zeiten des Krieges, wie im Text behauptet, von Natur aus ja ohnehin ihren Frieden hatte, täte es dann Not, ihr finanzielle Entschädigung oder Unterstützung zuteil werden zu lassen? Die Stiftung Afghan Girls Fund, die National Geographic nach der Veröffentlichung des Films gegründet hatte, scheint mittlerweile nicht mehr aktiv zu sein. Ihre Website ist nicht mehr abrufbar. Das Interesse an afghanischen Geflüchteten hat also merklich nachgelassen. Bis vor Kurzem.

Moral wird an den Höchstbietenden verkauft

Es ist kein Wunder, dass einer Person, die ihr Leben lang als austauschbares Objekt betrachtet wurde, jetzt ausgerechnet ein Unternehmen für NFTs zur Seite springt. Schließlich wird mit der Währung der Non-Fungible Tokens (nicht ersetzbare Digitalobjekte) Online-Kunsthandel betrieben. Die gemeinwohlorientierte NFT-Plattform Metagood, mit der Fotograf McCurry kooperiert hat, will nach Eigenaussage zusätzliche Geldmittel für die Evakuierung afghanischer Frauen und ihrer Familien auftreiben. Genauso wie bei Sharbat Gula mithilfe des Verkaufs von NFTs an Kund:innen.

Finanzielle Investitionen in Unternehmen dienen nun also Zwecken universeller Pflichtethik. Charity ist längst zu einem unverzichtbaren Bestandteil unserer Ökonomie geworden. Moral wird gekauft und an den Höchstbietenden verkauft. Wenn mit öffentlichkeitswirksamen Akten mildtätiger Großmut private Unternehmen den Wert menschlichen Lebens bestimmen, steckt hinter der gefeierten Ankunft Sharbat Gulas in Europa womöglich aber mehr als humanitäre Selbstgefälligkeit. Es geht auch darum, ihren künstlerischen Wert für potenzielle Verbrauchermärkte zu bewahren.

Privatisierung der Willkommenskultur

Das ist nicht als Anklage gegen Ikonografie per se zu verstehen. Denn in der digitalisierten Gesellschaft des Spektakels führt an der Produktion und Reproduktion von Bildern eigentlich kein Weg vorbei. Eine Möglichkeit, zu Ikonen gemachten Menschen ihre Handlungsfähigkeit und Selbstbestimmung zuzugestehen, könnte aber sein, sie materiell zu entschädigen. Nicht zugunsten ihres Symbolgehalts, sondern ihres Lebensunterhalts.

Die Privatisierung von Willkommenskultur, von der auch Sharbat Gulas Geschichte zeugt, sollte uns eine Mahnung sein für das, was Deutschland und Europa in den kommenden Jahren bevorstehen könnte. Einstweilen ist überall dort Skepsis angebracht, wo der Stolz Helfender den Trost für jene, denen geholfen wird, in den Schatten stellt.

Aus dem Englischen: Temye Tesfu

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