Dankbarkeit für die Psyche: Finger in die Luft!
Wenn man sich freut, soll man den Zeigefinger hochstrecken und laut „Delight“ rufen. Ist das Quatsch oder hilfreich?
D ankbarkeit, Achtsamkeit, Aufmerksamkeit. Wörter, die mich schaudern lassen. Vor dem Schlafen sollte man sich besinnen und aufschreiben, für welche Momente man an diesem Tag dankbar ist. Mich erinnert das an die Tischgebete im Kindergarten, die wir stehend an den Mann am Kreuz richten sollten. Vielleicht schaffe ich es auch deshalb nicht, regelmäßig meinen Dank in ein Notizbuch zu schreiben.
Dabei tut es der Psyche gut, sich auf das Glück zu fokussieren. Forschende testeten zum Beispiel ein Dankbarkeitstraining mit einer App und stellten fest, dass die depressiven Symptome und Ängste ihrer Proband:innen abnahmen, auch Schlafstörungen besserten sich, und das nicht nur kurzfristig. In der Psychotherapie werden daher immer mehr Dankbarkeitsübungen eingesetzt.
Weil ich mich mit dem Tagebuch schwertue, schickt mir eine Freundin einen Artikel. Darin wird geraten, den Zeigefinger in die Luft zu strecken und laut „Delight“ zu rufen, für Vergnügen, Freude, Genuss. Egal, wie klein es ist. Und egal wo, an der Kasse, der Bushaltestelle, im Restaurant. Hauptsache, Finger in die Luft und den Moment würdigen. Das ist einigermaßen bekloppt, also will ich es ausprobieren.
Delight!
Nach Feierabend radle ich zum See, alles klebt, ich springe ins Wasser und schwimme raus. Es ist das erste Mal in diesem Sommer. Also Finger hoch. „Delight“, rufe ich übers Wasser. Das macht Spaß und ich sammle weiter:
Zusammengeworfene Reste aus dem Kühlschrank draußen auf einer Parkbank essen. Delight!
Eine ältere Frau fährt auf einem dieser Senioren-Scooter vorbei und hört dazu laut Musik. Es klingt nach Neue Deutsche Welle. Delight!
Ein Aprikosencroissant, das aus mindestens so viel Marmelade wie Teig besteht. Delight!
Auf einer Fahrradtour schaue ich über meine Schulter, hinter mir fahren meine drei besten Freunde nebeneinander. Wir sind zusammen aufgewachsen. Delight!
Ein Marienkäfer landet auf meinem Oberarm. Delight!
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Ich könnte mir doch einen deutschen Ausruf ausdenken, das würde gleich weniger kitschig wirken, wird mir geraten. Hurra zum Beispiel, oder Jippieh! Sie hat recht, aber der Ausruf und mein Finger gehören jetzt schon zusammen. Und Delight klingt wie eine Süßigkeit.
Die Leichtigkeit kehrt zurück
Schnell merke ich eine Wirkung von dem ganzen Finger-in-die-Luft-Gereiße. Was hat mich in den letzten Wochen besonders gefreut? Normalerweise müsste ich überlegen. Jetzt ist es, als würde ich eine Kiste voller Schnappschüsse öffnen. Oma, Parkbank, See, der Käfer – alles da.
Das neue Ritual bringt noch etwas mit sich: Leichtigkeit. Als ich Kind war, hat man immer meine Fußsohlen gesehen, erzählte mir meine Mutter einmal. Weil ich mehr gehopst als gelaufen bin. Je älter man wird, desto weniger federt man durchs Leben, stattdessen wird gehetzt und geschlurft. Wenn ich jetzt meinen Finger in die Luft strecke, ist das wie ein Hopser. Ich muss grinsen über diese quatschige Geste, die dem Erwachsensein eine Sekunde lang die Ernsthaftigkeit nimmt.
So wie gerade. Ich sitze im Zug, während ich das tippe, und schaue hoch aus dem Fenster. Ein Reh steht im Feld. Hey du, denke ich, und es guckt zurück. Delight!
Neulich bin ich mit zwei Freundinnen durch den Regen gelaufen. Sechs Uhr morgens, wir gehen mitten auf der Straße. Die schweren Tropfen klatschen uns ins Gesicht. „Delight“, höre ich es neben mir. Es ist ansteckend.
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