DFB-Team vor dem EM-Halbfinale: Tugendhaft deutsch
Die Tugenddebatte ist zurück in Fußballdeutschland. Mit einer weiteren Kampfsportvorstellung wollen die Deutschen ins EM-Finale einziehen. Oh je!

Denn genau jene viel zu oft besungenen deutschen Tugenden sind gemeint, wenn das Wort Mentalität in die Runde geworfen wird, jenes deutsche Beißen, Kratzen, Grätschen, jenes unermüdliche Rennen, diese kampfsporttaugliche Zweikampfhärte und der Glaube daran, dass man ein Fußballspiel auch dann gewinnen kann, wenn man zum Spiel selbst nicht wirklich viel beizutragen hat. Denn genau diese fußballerische Kapitulation steckt in jenem schrecklichen Satz des Bundestrainers: Wir können es nicht, lass uns trotzdem gewinnen!
Längst sind sie aus ihren Löchern gekrochen, all jene, die den spielzerstörerischen Wadlbeißerinnenfußball feiern, als hätte es wirklich etwas mit Fußball zu tun, wenn man den Fußball zerstört. Feinfüßlerinnen wie Jule Brand, deren Drang, immer eine kreative Lösung für das Spiel nach vorne zu finden, auch im Abnutzungskampf gegen Frankreich immer zu spüren war, wird nicht für ihre Dribblings gefeiert, sondern für die weiten Wege, die sie gegangen ist, um eine Gegenspielerin an der eigenen Grundlinie zu stellen. Dass sie für ein Land spielen muss, in dem die notorischen Fußballverachter, jene Mentalitätsanbeter, gerade die Oberhand gewinnen, hat die Hochbegabte nun wirklich nicht verdient.
Lothar Matthäus, jenen omnipräsenten Männerweltmeister von 1990, wird wohl kaum einer als Experten für das Spiel der Frauen bezeichnen. Dennoch wird landauf, landab zitiert, was er in seiner Kolumne für dem Pay-TV-Sender Sky geschrieben hat. Es seien „die berühmten deutschen Tugenden des Fußballs: der Teamgeist, Leistungs- und Mentalitätswille“, die den Erfolg gegen Frankreich ermöglicht hätten. „Mentalitätswille“, was soll das überhaupt sein? Egal. Man muss in diesen Tagen wohl nur irgendwas mit Mentalität sagen und die Fußballnation bekommt leuchtende Augen.
Mit Kampf zum Sieg
Das hat Tradition. Dass einer der beliebtesten Anfeuerungsrufe deutscher Fans „Kämpfen und Siegen!“ lautet, ist Teil dieser spielfeindlichen Fußballkultur. Wie wäre es stattdessen mit „Spielen und siegen!“? Undenkbar in einem Land, in dem Franziska Kett nach einem Spiel, in dem sie die Linie wie ein Hochgeschwindigkeitstraktor beackert und ihre Gegenspielerinnen abgeräumt hat wie ein Mähdrescher das Getreide, zur Superheldin hochstilisiert hat. Wie gut sie mit dem Ball umgehen kann? Wen interessiert das schon?
Voll des Lobes ist Fußballdeutschland auch über Stürmerin Giovanna Hoffmann. Es war die „Körperlichkeit“ (Christian Wück) der Leipziger Rasenballsportlerin, die gefeiert wurde. In der zweiten Hälfte wurde beinahe jeder ihrer Zweikämpfe abgepfiffen. Ihr zupackendes Wesen gilt als Ausweis jener spielzerstörerischen Mentalität, von der die Deutschen bisher durchs Turnier getragen werden.
In der Videogalerie zum EM-Turnier auf sportschau.de feiert die ARD Kapitänin Janina Minge mit einem Clip, auf dem zu sehen ist, wie sie zweimal hintereinander für ein Tackling auf den Hosenboden geht. „Monstergrätsche – Kapitänin Minge geht voran“, steht über dem Video. Monster scheint demnach das größte Kompliment zu sein, das man sich als Fußballerin in Deutschland erarbeiten kann.
Da liegt der Gedanke an das griesgrämige Gespenst aus der Geisterbahn des deutschen Fußballs nicht fern. Jener Matthias Sammer hatte dem deutschen Fußball kürzlich ein vernichtendes Zeugnis ausgestellt. „Der deutsche Fußball hat seine grundsätzliche Identität und damit wesentliche Stärken verloren“, hatte der ehemalige Sportdirektor des Deutschen Fußball-Bunds dem Fachmagazin Kicker gesagt.
Und er stellte die Frage: „Wofür steht der deutsche Fußball heute eigentlich?“ Die Auftritte der Deutschen in der Schweiz müssten ihm gefallen haben, diese „Jetzt-erst-recht-Mentalität“ (Stürmerin Klara Bühl), die Janina Minge im Überschwang nach dem Spiel als „geisteskrank“ bezeichnet hat.
Mit Mentalität wollen die Deutschen nun Spanien im Halbfinale bezwingen. „Wir wollen jetzt das Ding nach Hause holen“, sagte die am Mittwoch gelbgesperrte Sjoeke Nüsken nach dem Frankreichspiel. Sollte es gelingen, es wäre keine gute Nachricht für alle, die am Fußball vor allem das Spiel lieben.
Fairplay fürs freie Netz
Auf taz.de finden Sie unabhängigen Journalismus – für Politik, Kultur, Gesellschaft und eben auch für den Sport. Frei zugänglich, ermöglicht von unserer Community. Alle Inhalte auf unserer Webseite sind kostenlos verfügbar. Wer es sich leisten kann, darf gerne einen kleinen Beitrag leisten. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Deutschlands Haltung zu Gaza
Ein Ende des Krieges zu fordern, ist nicht kompliziert
Neue Oper für Hamburg
Kein Applaus für Klaus Michael Kühne
Vicky Leandros schmeißt Weidel raus
Noch keine Heldinnentat
Was sorgt für Frieden?
Pazifismus im Kreuzfeuer
Weniger Arbeitslosengeld für Ältere
Neoliberal und unwirksam
DFB-Team vor dem EM-Halbfinale
Tugendhaft deutsch