DDR-Bürgerrechtler über Gorbatschows Tod: „Die Antithese zu Putin“
Der letzte Präsident der UdSSR sei eine „Lichtgestalt, die in den Schatten geraten ist“. Das sagt der Ost-Grüne Werner Schulz.
taz: Herr Schulz, was ist Ihnen als Erstes durch den Kopf gegangen, als Sie vom Tod Michail Gorbatschows erfahren haben?
Werner Schulz: Ich war erschrocken, mir hat sich das Herz zusammengekrampft, ich konnte danach überhaupt nicht einschlafen. Ich kannte Gorbatschow persönlich, das letzte Mal haben wir uns vor sechs Jahren in seiner Stiftung in Moskau getroffen. Vor meinen Augen liefen Lebensbilanzen ab – seine und meine, die haben sich ja verschiedentlich getroffen.
Wann und wie passierte das?
Ich bin in den 80er Jahren zum ersten Mal auf Gorbatschow gestoßen. Damals war ich wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sekundärrohstoffwirtschaft in Berlin und einer der wenigen, die Gorbatschows Buch „Perestroika“ zu Hause hatten. In der DDR war das ein Bestseller, der aber kaum zu bekommen war. Ich hatte damals vorgeschlagen, im Kollegium über das Buch zu sprechen, und ein Plakat mit einem Zitat daraus aufgehängt. Der Institutsleiter bekam einen Tobsuchtsanfall und ich drei Tage Hausverbot.
Werner Schulz,
72 Jahre, war in der DDR-Friedensbewegung aktiv, für die Grünen im Bundestag, von 2009 bis 2014 im EU-Parlament.
Sie haben sich dann in der Friedens- und Demokratiebewegung engagiert. Welche Bedeutung hatte Gorbatschow dort?
Er war eine große Hoffnung, dass sich in der Sowjetunion endlich etwas bewegt, ein Sozialismus mit menschlichem Antlitz, eine Neuauflage des Prager Frühlings von 1968. Als im Sommer 1989 die Zeitschrift Sputnik in der DDR verboten wurde, waren selbst Mitglieder der Führungsspitze verunsichert. „Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen“, hieß es immer, doch das galt nicht mehr. Von der Sowjetunion gab es plötzlich nichts mehr zu lernen.
Wie beschreiben Sie die Rolle, die Gorbatschow bei der Vereinigung Deutschlands gespielt hat?
Mit dem Zwei-plus-vier-Vertrag hat Gorbatschow die Hand zur deutschen Einheit gereicht. Er war ein großer Visionär, nicht der Totengräber der Sowjetunion, sondern der totalitären Diktatur.
Aber wird Gorbatschow, gerade auch in Deutschland, nicht etwas zu positiv gezeichnet? Schließlich hat er im Januar 1991 Panzer nach Litauen geschickt, um Proteste niederschlagen zu lassen.
Ja, damit hat sein Bild einige Kratzer bekommen. Er ist nicht vor der Anwendung von Gewalt zurückgeschreckt, das stimmt. Aber er hat dennoch demokratische Werte propagiert. Gorbatschow war kein Hardliner. Und er hat das Baltikum nicht im Blut ertränkt.
Worin besteht für Sie der größte Unterschied zwischen Gorbatschow und Russlands Präsidenten Wladimir Putin?
Gorbatschow ist die Antithese zu Putin. Putin führt Russland in alte Zeiten zurück, Gorbatschow wollte genau das Gegenteil. Wir erinnern uns an die Rochade 2008, als Putin und Dmitri Medwedjew ihre Ämter tauchten und Letzterer für vier Jahre Präsident wurde. Putin hat Gorbatschows Weg in die Demokratie zerstört. Als Putin 2001 seine Rede im Bundestag gehalten hat, wurde er noch als Gorbatschows Enkel gefeiert. Man wollte in ihm nicht einen Ziehsohn des KGB erkennen. Ich habe damals übrigens das Plenum des Bundestages vorzeitig verlassen.
Liegt darin nicht auch eine gewisse Tragik?
Zweifellos. Für mich ist Gorbatschow eine Lichtgestalt, die in den Schatten geraten ist. Dazu hat Wladimur Putin entscheidend beigetragen. Er hat Gorbatschow für alle Probleme verantwortlich gemacht, mit denen Russland in den 1990er Jahren, während der Transformationsphase, zu tun hatte. Gorbatschow musste für all die Schwierigkeiten als Sündenbock herhalten. Dabei geht es in Wahrheit um Putins Phantomschmerz wegen des Untergangs der Sowjetunion. Hier sei noch einmal an Putins Aussage erinnert, dass der Zusammenbruch der Sowjetunion die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts gewesen sei.
Worin besteht Gorbatschows Erbe?
Es ist die Hoffnung, dass es doch immer wieder einzelne Perönlichkeiten in einer Gesellschaft gibt, die ein System aus den Angeln heben können. Gorbatschow folgte auf Leute wie Leonid Breschnew. Auch nach Putin wird es jemanden geben, der Russland wieder auf den Weg der Demokratie und zu einer Verständigung mit dem Westen führt.
Glauben Sie, dass Gorbatschow ein Staatsbegräbnis oder zumindest eine würdige Trauerfeier bekommen wird?
Das ist eine interessante Frage. Genauso spannend ist, welche ausländischen Staatsgäste anreisen werden oder anreisen dürfen und wer von ihnen bereit ist, sich neben Wladimir Putin zu stellen. Was Putin selbst angeht, so wird er sicher versuchen, aus diesem Ereignis irgendeinen Profit zu schlagen, und versuchen, sich in Gorbatschows Glanz zu stellen. Ich finde, dass Putin bei dem Trauerakt, wie auch immer er aussehen wird, absolut nichts zu suchen hat.
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