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Coronapandemie und AnpassungDann machen wir eben neue Pläne

Lin Hierse
Kommentar von Lin Hierse

Die Pandemie zwingt uns dazu, mit dem Weitermachen aufzuhören. Wir müssen uns den Umständen anpassen.

In diesem Jahr dürfen wir daran glauben, dass es 2021 bergauf geht. Immerhin das Foto: Sandra Zuerlein/imago

D ie Erzählung des „beschissenen Jahres 2020“ hat ein bisschen geholfen. Sie hat sogar ganz gut funktioniert, solange der Jahreswechsel noch nicht in Sichtweite war. Weil man eben manchmal eine:n Schuldige:n braucht. Und der reflexhafte Ausruf nach dem „Scheißjahr“ hat die maximale Hoffnung mitgetragen, dass im nächsten Jahr alles besser wird – und sich diese Besserung bitte schon an Weihnachten einzustellen hat. Vielleicht geht 2020 einfach als verlorenes Jahr in die Weltgeschichtschronik ein, aber immerhin ist es fast geschafft. Nur noch wenige Tage bis Silvester! Noch wenige Tage bis zum Neuanfang!

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Die Realität sieht anders aus. Dass die Wunschvorstellung von der Erlösung vom Coronamarathon zum Jahresende nicht eintritt, ist längst klar. Wir verstehen diesen Umstand trotzdem nur sehr langsam, haben aber keine Wahl mehr. Während wir uns im Sommer noch einreden konnten, der Winter würde niemals kommen, meldeten die Gesundheitsämter dem Robert Koch-Institut am ­letzten Dienstag 952 Todesfälle. Neunhundertzweiundfünfzig Menschen, die an oder im Zusammenhang mit Covid-19 gestorben sind. In 24 Stunden.

Deutschland hat bewiesen, dass es kollektive Eigenverantwortung nicht kann. Viele haben sich im Einzelnen Mühe gegeben, aber alle zusammen nicht genug. Wohlstandsmenschen glauben selbst in einer Pandemie noch daran, unverwundbar zu sein. Politisch Verantwortliche zeigen, dass sie oft noch zu viel europäische Arroganz in sich tragen, um von anderen Ländern und Gesellschaften lernen zu wollen.

Und wir? Wir sind jetzt noch ein bisschen ekelhaft zueinander, weil wir spüren, wie ungleich und ungerecht unsere Gesellschaft ist. Schieben Schuld zu und wälzen Verantwortung auf andere ab. Manchmal landet beides bei uns selbst. Manchmal finden wir, dass wir doch alles richtig machen, während andere egoistisch sind. Wir pendeln zwischen Wut und Resignation, weil wir doch wenigstens auf Weihnachten gehofft hatten, auf den Jahreswechsel. Auf eine Belohnung, auf ein „Wie immer“.

Durch Pläne geben wir der Zeit einen Sinn

Zwischen den Jahren ist eigentlich die einzig sinnvolle fünfte Jahreszeit. Ein Dazwischen-Raum, in dem die Welt gleichzeitig stehen bleibt und sich weiterdreht – ein bisschen so, als wäre ein Kind neu geboren oder ein Mensch gerade verstorben. Als würde man kurz nicht nur wissen, sondern auch ganz stark spüren, was wirklich wichtig ist im Leben. Als wäre man für einen kurzen Moment genau gleich viele Schritte von Vergangenheit und Zukunft entfernt.

Diese Zeit hebt sich heraus aus dem Alltagstrott, weil wir entschieden haben, dass sie symbolisch ist. Menschen zählen an Silvester von zehn bis „Happy New Year!“ runter, obwohl die Sekunde nach Mitternacht gar nichts ändert. Aber sie steht für so viel. Für den Wunsch nach, nun ja, Happiness eben. Für einen neuen Kalender, neue Möglichkeiten, neue Pläne. Normalerweise.

Pläne zu schmieden, hilft dabei, eine positive Grundeinstellung zu behalten. Durch Pläne geben wir der Zeit einen Sinn. Pläne strukturieren Tage, Wochen und Monate. Pläne können auch Belohnungen sein, auf die wir uns freuen. Seit Corona ist das anders. Wir können nichts mehr planen, jedenfalls nicht so, wie wir es gewohnt sind.

Nun ist Lockdown, nicht light, sondern heavy. „Wie immer“ ist aus guten Gründen abgesagt, und es tut natürlich immer weh, schöne Pläne kurz vor Schluss absagen oder ändern zu müssen. Aber wir sind nun mal weder „fast da“, noch wissen wir genau, wie diese Zeit aussieht, in der wir nach Corona ankommen sollen.

Es gibt keine Garantie mehr für die alten Pläne, und schon gar kein selbstverständliches Recht auf sie – eigentlich hätte uns die Klimakrise schon längst in diesen Zustand versetzen müssen. Keine Garantie für den nächsten Sommerurlaub, keine Garantie für einen ausgelassenen Geburtstag und keine Garantie für Sicherheit. Jedenfalls nicht unter den alten Bedingungen.

taz am wochenende

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Plätzchenpicknick mit Videoschalte statt Ausflug ins Freie

Für viele Menschen und Gesellschaften auf der Welt ist dieser Zustand der Unsicherheit längst Alltag. Keine Pläne mehr machen können wie früher, weil der Fluss seit Jahren droht, das Dorf zu überschwemmen. Weil das nächste Feuer das Zuhause auffressen könnte. Weil man im Kugelhagel sein Leben verlieren kann. Nicht genug zu essen hat.

So viele Menschen auf der Welt spüren jeden Tag, dass das Leben unfair ist und sie manches nicht in der Hand haben. Viele von ihnen haben auf ganz unterschiedliche Arten Resilienz entwickelt, sie sind geübt in Kreativität, Spontanität und Improvisation. Das sind zunehmend wichtige Fähigkeiten, nicht erst seit der Pandemie, aber durch sie noch verstärkt. Von diesen Menschen können wir viel lernen. Nicht Leben mit Resignation, sondern wie man sich von alten Plänen verabschiedet und neue, den Umständen entsprechende, zeitgemäße Pläne macht.

Das mag ungewohnt sein, ist aber möglich, auch im Kleinen. Wir könnten Pläne machen, die auch unter den aktuellen Umständen umsetzbar sind: Ein Plätzchenpicknick mit Videoschalte statt Ausflug in die Kälte. Ein Päckchen oder eine Karte für die, die sich gerade allein fühlen. Man kann auch netter zu sich selbst sein, oder es zumindest versuchen. Statt irgendwelcher Urlaubspläne für den Sommer 2021 schmiedet man Pläne für morgen und übermorgen. Statt immer alles allein schaffen zu wollen, bittet man um Hilfe und Unterstützung, wenn es zu schwer wird. Oder man versucht sogar mal, gar keine Pläne zu machen.

Natürlich kann nicht nur jede:r Einzelne anders Pläne schmieden. Auch das kollektive Wir muss lernen, sein Planungswesen einer unsicheren Zeit anzupassen – und zwar nicht nur akut, sondern auch langfristig und nachhaltig. Systemische Sicherheit zu schaffen, bedeutet dabei mehr denn je, Sicherheit für die zu schaffen, die besonders vulnerabel sind.

Menschen haben Frühwarnsysteme entwickelt, die vor Erdbeben und Tsunamis warnen. Sie können also auch in einen Gesundheitssektor mit fairer Bezahlung investieren, der nicht krank macht, und für alle Menschen ungeachtet ihrer finanziellen Lage, ihres Geschlechts, ihrer Religion und ihres Aussehens die bestmögliche Versorgung bietet. Oder ein Parlament wählen, das aus Menschen möglichst diverser Lebensrealitäten besteht, um einen tatsächlichen Querschnitt der Gesellschaft abzubilden. Oder endlich einsehen, dass Wohlstand keine Unverwundbarkeit mit sich bringt, sondern Verantwortung gegenüber denen, die an Europas Außengrenzen in überschwemmten Zelten sitzen.

Die unerträgliche Leichtigkeit von allem Guten und Schlechten

Ja, 2020 ist ein Scheißjahr. Aber 2020 ist auch das Jahr, in dem wir die unerträgliche Gleichzeitigkeit von allem Guten und Schlechten endlich wirklich mal fühlen mussten. Und unsere Überforderung damit. In diesem Jahr zwischen den Jahren dürfen wir daran glauben, dass es 2021 bergauf geht. Wir dürfen der alten Normalität etwas hinterhertrauern und über eine neue nachdenken, uns hilflos fühlen und trotzdem hoffnungsvoll. Wir können traurig sein, nicht wie sonst mit der Familie zusammenzukommen, oder uns total darüber freuen, keine Verwandtschaft sehen zu müssen. Oder Weihnachten total egal finden. So oder so bleibt die Welt kurz stehen und dreht sich gleichzeitig weiter.

Sicher ist, dass die Coronapandemie uns zu etwas zwingt, nach dem Politik und Gesellschaft so oft gerufen, es aber nur selten umgesetzt haben: Nicht weitermachen, wie bisher. Und dabei müssen wir nicht nur geliebte, aber teils überholte Pläne wegwerfen – wir machen im Idealfall auch Platz für neue.

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Lin Hierse
taz-Redakteurin
Lin Hierse ist Redakteurin der wochentaz und Schriftstellerin. Nach ihrem Debüt "Wovon wir träumen" (2022) erschien im August ihr zweiter Roman "Das Verschwinden der Welt" im Piper Verlag. Foto: Amelie Kahn-Ackermann
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6 Kommentare

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  • Es schmerzt zu sehen, wie 'wir' die glückliche Lage, die wir noch im Sommer hatten, verspielt haben - und von einigen asiatischen Ländern sowie Neuseeland hätten wir viel lernen können.

    Das 'Versagen der kollektiven (?) Eigenverantwortung' läßt sich weiter aufschlüsseln. Nur der genaue Blick erlaubt genaue Diagnose erlaubt genaue Therapie.

    Gewiß, wir alle tragen Verantwortung - aber wer (größere) Gestaltungsmacht, wer (größere) Meinungsmacht hat, hat immer HÖHERE Verantwortung.

    Sind diese Akteure ihrer Verantwortung gerecht geworden? Nach bestem Wissen und Gewissen?



    Eine wohlmeinende Kanzlerin, die eher mit dem Strom schwimmt, als ihn zu lenken?

    Die Landesfürsten, deren parteipolitisch motivierter Lockerungsüberbietungswettbewerb zu einem mittelalterlichen Flickenteppich von unüberschaubaren, sich wechselseitig relativierenden Maßnahmen geführt hat – eine Sternstunde des Föderalismus?

    Ein Senat, der zu den notwendigen Maßnahmen eher getragen werden muß, und dem ein Mehr an vorausschauender Führung, an Aufklärung und an Durchsetzung der Maßnahmen gut gestanden hätten.

    Und hätte der erste Lockdown nicht doch etwas länger durchgehalten werden müssen, wie einige Institute forderten? Hätte die Reisewarnung des Chefes des Ärztebundes ernster genommen werden sollen? War die Freigabe von Demonstrationen in der Pandemie richtig? Ist es aktuell richtig, gerade Gottesdienste – die häufig ‘hot spots’ waren - freizugeben?

    Und sind die Organisatoren und Autoren ihrer Verantwortung gerecht geworden, die monatelang zu Demonstrationen mobilisiert haben, die die Abstandsregelungen für den Rest der Bevölkerung doch ad absurdum geführt haben dürften.

    Fragen, die den jetzt auf den Intensivstationen Beatmeten und sterbenden Frauen und Männern nicht mehr helfen.

    P.S. Dem Konzept der ‘Resilienz’ würde ich noch das Konzept der ‘Antifragility’ hinzufügen – des Trainings des ‘Immunsystems’ durch Konfrontation.

    • @Weber:

      Auch ich bin zu dem Schluss gekommen, dass es eine bessere Strategie geben muss - eine Suppressions- oder ZeroCovid Strategie.

      Warum das möglich ist, finde ich in diesem Text sehr gut beschrieben:

      medium.com/@mamasu...tegie-dea488ece9d8

  • Wenn der Virus (oder die Viren) nun weiter mutiert? Impfung, Immunität und Herdenschutz nur kurz oder gar nicht funktionieren, was dann? Dann bleibt es nicht bei einem beschissenen Jahr. Es wird eher ein Jahrzehnt, in dem die „unwichtigen“ Dinge wirklich unwichtig werden. Statt des langsamen Klimatodes sterben wir nun alle den schnellen Virentod?

    Es fällt schwer nach Bekanntwerden der neuen Virusmutationen irgendwie optimistisch ins neue Jahr zu gehen.

    • @TazTiz:

      > Wenn der Virus (oder die Viren) nun weiter mutiert? Impfung, Immunität und Herdenschutz nur kurz oder gar nicht funktionieren, was dann?

      Das ist weniger wahrscheinlich, nach den Erkenntnissen der Virologen haben die Impfstoffe und das Immunszstem genug Anhaltspunkte und das Virus kann nicht mal eben sein Spike Protein komplett auswechseln.

      Ein Problem ist aber, dass die Impfungen voraussichtlich so bis zum Sommer oder Herbst genug Schutz geben sollten. Ein mutiertes Virus, das sich z.B. mit einem R = 1.9 statt 1.1 ausbreitet, würde sich etwa jede Woche verdoppeln, d.h. wir hätten in den nächsten Wochen erst wenige aber ab ca. März viele zigtausend zusätzliche Fälle. Wir dürfen nicht warten, bis es soweit ist.

  • Ja, machen wir doch einfach neue Pläne...im Moment beschäftigt mich die Planung, wie ich Arbeit und Kinderbetreuung unter einen Hut bekomme. Das sind doch mal befriedigend Pläne, die so richtig Perspektive zeigen.

    • @Sabrina K.:

      Ich glaube, das ganze war etwas weiterreichend gemeint. Eher ein "nicht weiter wie bisher". Denken wir nur mal ans Frühjahr. Da war die erste Welle noch nicht mal richtig zuende und worüber dachten viele nach? Ob ihr dusseliger Sommerurlaub nun "wie immer" stattfinden kann..