US-Künstlerin Miranda July: „Langeweile ist für Kinderlose“
Die Regisseurin und Schriftstellerin Miranda July bringt einen Coming-of-Age-Film heraus – und spricht über Kreativität zwischen Lockdown und Unruhen.
Seit ihrem letzten Spielfilm „The Future“ sind über neun Jahre vergangen, in denen Miranda July sich anderen Projekten widmete. Ihr Film „Kajillionaire“ erzählt die Coming-of-Age-Geschichte der 26-jährigen Old Dolio, die mit ihren ungewöhnlichen Eltern bei einem Versicherungsbetrug eine Fremde kennenlernt, die ihr Leben verändert. Der Film beschäftigt sich mit der Beziehung zwischen Eltern und Kind, mit Nähe, Liebe und der Frage, was uns nach dem Tod erwartet.
taz: Wie war Ihr Jahr bisher, Frau July?
Miranda July: Es fühlt sich an wie viele Jahre in einem. Ich bin dankbar dafür, alles zu haben, was mir wichtig ist. Aber alles über diese essenziellen Dinge hinaus fand einfach nicht statt. Es ist interessant zu sehen, wie man das eigene Leben komplett umformen kann.
Vermissen Sie die Langeweile, die Sie früher als so wichtig für Ihre Arbeit empfunden haben?
Die Multimediakünstlerin Miranda July, geboren 1974, lebt in Los Angeles. Sie schreibt, performt, filmt, führt Regie, ist Schauspielerin, hat eine Messenger-App entwickelt und coproduziert gerne mit ihrem Publikum. Ihr dritter Spielfilm, die Coming-of-Age-Geschichte „Kajillionaire“, kam in Deutschland am 22. Oktober ins Kino. Derzeit arbeitet July an ihrem zweiten Roman, über den sie aber noch nichts verraten will.
Langeweile ist etwas für Leute ohne Kinder. Ich wünschte, ich hätte Langeweile – aber das ist eine der Sachen, die ich loslassen musste. Ich beschule momentan entweder mein Kind zu Hause oder versuche zu arbeiten, und dann bin ich erschöpft. Das war’s.
Haben Sie denn in dieser Zeit auch irgendetwas Besonderes oder Gutes entdeckt?
Auf jeden Fall erfüllt Technologie nun ihren Zweck. Ohne Social Media würde ich überhaupt nicht mitbekommen, wie mein neuer Film beim Publikum ankommt. Normalerweise wäre ich gerade unterwegs und würde auf Veranstaltungen über „Kajillionaire“ sprechen. Auch für die abgeklärteste Person, die so tut, als seien ihr Publikumsreaktionen egal, ist es schwierig, mit einem neuen Projekt zu beginnen, wenn sie keine Ahnung hat, wie ihr vorheriges Werk angekommen ist. Das ist ein Teil kreativer Entwicklung. Zum Glück bekomme ich über Instagram viele Nachrichten, die teilweise sehr süß und persönlich sind. Und über Instagram habe ich dann auch versucht, Dinge zu erschaffen, die vielleicht nur in dieser Zeit entstehen konnten.
Was sind das für Dinge?
Anfangs haben mir junge Leute sehr leidgetan, die eigentlich gerade in die Welt hinaustreten sollten. Für jemanden wie mich war das ein besonderes Jahr – aber kein entscheidendes. Für junge Erwachsene stellen bestimmte Jahre die Weichen für den Rest des Lebens. Es hat mir das Herz gebrochen, mir vorzustellen, dass manche Menschen dieses Jahr vielleicht wirklich verloren haben. Deshalb habe ich auch zu Beginn des Lockdowns auf Instagram ein Covid International Arts Festival gestartet mit einem Aufruf an Künstler und Künstlerinnen, ihre Arbeiten einzusenden. Einige Zeit später habe ich einen Film gemeinsam mit meinem Publikum gedreht, und dann gab es diese Revolution der sozialen, der antirassistischen Gerechtigkeit, worauf ich mich ganz konzentriert habe.
Also haben sich auch bei Ihnen 2020 viele Pläne geändert?
Ich ziehe Dinge eigentlich durch – aber man muss lernen loszulassen, wenn Pläne keinen Sinn mehr ergeben. Das ist etwas Neues, das wir anstreben sollten. Zu lernen, Ideen loszulassen und dann schnell neue zu haben.
Auch in „Kajillionaire“ geht es darum, mehr loszulassen, an nichts festzuhalten, nicht einmal am Leben, wie die Protagonistin Old Dolio sagt. Wenn Sie sich unsere heutige Welt anschauen, würden Sie sagen, das Leben, wie wir es kannten, ist vorbei?
Ich glaube nicht, dass wir zum alten Status zurückkehren werden. Es wird nicht so einfach ein Impfstoff entwickelt, und dann ist alles wieder normal. Und ich hoffe auch ganz stark, dass wir in diesem Land nicht wieder zu einer Akzeptanz weißer Vorherrschaft in verheerendem Ausmaß zurückkehren werden. Es wurde einfach ein Schleier heruntergerissen.
In „Kajillionaire“ löst die Figur der eigentlich sehr abweisenden Old Dolio ganz plötzlich die künstlichen Fingernägel einer fast Fremden ab, was für einen eigentümlich magischen Moment sorgt. Solch unerwartete Brüche sind typisch für Ihre Figuren – aber wie denkt man sich denn so etwas aus?
Ich stellte mir die Art von Frau vor, die solche Nägel trägt. Und überlegte, wie es sich anfühlte und aussähe, wenn sie abgezogen würden. Das erschien mir sehr intim. Von meinem Studio aus lief ich wie in Trance zur Drogerie und kaufte Kunstnägel, probierte das an mir selbst und schrieb es dann auf. Ich mache das oft so. Manchmal muss ich etwas immer weiter ausprobieren, bis schließlich die Figuren diese Dinge statt meiner umsetzen.
Sie haben „Kajillionaire“, nachdem die ursprüngliche Finanzierung geplatzt war, mit der Produktionsfirma Focus Features produziert. Wäre eine Streamingplattform dafür auch infrage gekommen, so, wie zum Beispiel Apple TV+ den neuen Film von Sophia Coppola finanziert hat?
Für diesen Film habe ich so eine Finanzierung nicht in Betracht gezogen, denn das war vielleicht eine der letzten Chancen, nur fürs Kino zu drehen. Man muss sich entscheiden zwischen einer Kinoproduktion und dem doppelten Budget, wenn man für Netflix oder andere Streamingdienste produziert.
Was hat für Sie sonst noch dagegengesprochen?
Ich habe die Vor- und Nachteile abgewogen. Ich bin keine Puristin, ich arbeite in vielen verschiedenen Formen, selbst innerhalb des Mediums Film. Nicht viele Kinofilmregisseurinnen würden einen Film auf Instagram produzieren. Aber ich sehe so etwas nicht als weniger wertvoll an. Diese Arten von Film haben einfach unterschiedliche Energien. Und: Film ist eine vergleichsweise neue Kunst. Da erwartet man doch, dass sie sich wirklich weiterentwickelt und nicht mehr genauso aussieht wie kurz zuvor.
Ist die Art der Finanzierung denn entscheidend für den Charakter eines Films?
Streamingplattformen können gefährlich werden, weil sie Monopole schaffen. Sie beeinflussen Filme mit sehr großen Geldsummen. Aber heutzutage prägen auch Kids mit Handykameras die Filmbranche – besonders dahingehend, welche Geschichten erzählt werden und welche Art von Menschen sich als Filmschaffende sehen. Fast jedes Telefon hat eine gute Videokamera, und jede*r kann solche Filme einfach und schnell verbreiten. Man fragt sich: Was macht Filmschaffende überhaupt aus? Und können nur Spielfilme die Welt verändern? Kann das nicht auch ein fünfminütiger Clip?
Welchen Unterschied macht es für den Dreh eines Films, wie viel Geld hineingesteckt wird?
Wenn man einmal in den Bereich eines größeren Budgets kommt, ist man nicht mehr so völlig frei wie ganz ohne Budget. Für „Kajillionaire“ hatte ich mehr Geld zur Verfügung als für meine anderen Filme, auch wenn das immer noch relativ wenig war. Ich musste nicht aus Geldmangel unangenehme Dinge tun, sondern konnte einfach die Geschichte erzählen – so hat es besonders viel Spaß gemacht. Das war wirklich irgendwie ein erstes Mal, und es war großartig.
Welche Rolle spielt der Anspruch, den Sie an Ihre Arbeit stellen?
Ich glaube nicht, dass er sich ändert, wenn weniger Geld in ein Projekt fließt. Die Herangehensweise ist vielleicht kreativer, weil ich spontaner und etwas weniger vorsichtig sein kann. Aber etwas zu teilen, das weniger durchdacht ist, ist dafür auf eine andere Art beängstigend. Für alles, was ich tue, habe ich ungefähr die gleichen Maßstäbe, egal ob etwas sehr frei und spontan ist oder ob es jahrelang gedauert hat. Das kommt mir dann fast vor wie verschiedene Medien – aber sie müssen beide gut sein.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
100 Jahre Verkehrsampeln
Wider das gängelnde Rot
++ Nachrichten zum Umsturz in Syrien ++
Baerbock warnt „Assads Folterknechte“
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was
Trendvokabel 2024
Gelebte Demutkratie
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt
Mehr Zugverkehr wagen
Holt endlich den Fernverkehr ins Deutschlandticket!