Coronalob an die Mehrheit: Verstörend gelassene Freundlichkeit
Im Ausnahmezustand der Pandemie wird viel geredet über Nörgler und Trittbrettfahrer. Dabei machen die Menschen in Deutschland das gerade richtig gut.
N iemand übersteht eine Pandemie unbeschadet – selbst die Superreichen in ihren abgeschotteten Enklaven müssen sich Fragen gefallen lassen, die bislang auf wissenschaftliche oder aktivistische Zirkel begrenzt blieben: Was ist eigentlich euer Beitrag in der globalen Krise? Wie rechtfertigt ihr euren Egoismus, in einer Zeit, da die normalen Leute selbstverständlich den Laden am Laufen halten?
Täglich schlagen sie jetzt ein, die ganz privaten Nachrichten: eine Freundin im Pflegeheim, die nicht weiß, wann sie wieder einen Menschen umarmen darf; Familien in Isolation, die Kinder getrennt von ihren Freundinnen und in Sorge um die kranke Mutter; und dann, ja, auch die Toten, unsere Toten.
Davon schweigen die Menschen morgens und abends in der U-Bahn, auf dem Weg zu Schule und Arbeit. Die Kids kabbeln sich kaum, die Erwachsenen maulen wenig, wäre ja auch schwierig: Sie sind die 99 Prozent, die Maske tragen. Der „so verwegene Menschenschlag“, wie Goethe die Berliner Bevölkerung gar nicht abwertend betitelte – er ist jetzt verwegen im Aushalten, in einer oft schon verstörend gelassenen Freundlichkeit.
Kindische Panik, menschenfeindliche Asozialität, organisierte Verächtlichkeit – sie scheinen derzeit als Laster der Provinz in die Stadt zu strömen. Dabei sind die meisten Menschen überall in Deutschland gleich abgestoßen von den Trittbrettfahrern des pandemischen Ausnahmezustands. Es ist nicht die oft verschlafene und sozial unausgewogene Krisenpolitik, die dem Leben in diesem traurigen November einen – hoffentlich – unwiederholbaren Glanz verleiht: Es sind die Leute.
Scheiße sagt man nicht, aber zu Hause haben wir eine Ausnahmeregelung für die Tochter eingeführt: „Corona ist Scheiße.“ Das singen wir auch mal im Chor und es geht uns besser. Und dann denken wir an unsere Risikopatienten, die niemand haben, mit dem sie im Chor fluchen können.
Heute Morgen wollte ich an einer Engstelle mit dem Rad schon demütig anhalten, um die entgegenkommende Powerradlerin vorbeizulassen, da nickte sie mir ermunternd zu, ich fuhr los, nuschelte Danke durch die Maske, sie nuschelte etwas zurück – das nett klang! Da dachte ich: Hoffentlich ist die Sache bald vorbei. Ich will mein motziges Berlin wiederhaben
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Aktienpaket-Vorschlag
Die CDU möchte allen Kindern ETFs zum Geburtstag schenken
Waffen für die Ukraine
Bidens Taktik, Scholz’ Chance