Coronalage in Ostdeutschland: Bis zum Limit
Nirgends ist die Inzidenz so hoch und die Impfquote so niedrig wie in Sachsen. Thüringen hofft auf den Wintersport, Sachsen-Anhalt auf Kultur.
E nde Oktober prophezeiten es sogar die Fußballfans des SG Dynamo Dresden: „In vier Wochen wird es vorbei sein mit 16.000 erlaubten Zuschauern.“ Vor dem Harbig-Stadion in Dresden zurrte einer seinen schwarzgelben Schal mit dem weißen „D“ etwas enger. Ein anderer sagte: „2G juckt uns nicht. Ich bin geimpft, weil ich zu Dynamo gehe. Der Klub braucht Einnahmen.“ Erstaunlich viele Besucher an diesem Tag sind doppelt geimpft. Aber im K-Block, dem Aufmarschgebiet der Ultras, gebe es bestimmt viele Ungeimpfte, mutmaßt ein Fan.
Neben der Niederlagenserie ihres Vereins bedrückte die Männer an diesem Oktobertag auch die Aussicht, dass der unbeschränkte Spielbesuch nur eine kurze Episode bleiben könnte. Jetzt, knapp drei Wochen später, zeigt sich, dass sie wohl recht behalten werden: Die sächsische Corona-Schutzverordnung vom 8. November ist schon wieder überholt, Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) hat am Donnerstag im Landtag einen „harten und klaren Wellenbrecher“ für zwei bis drei Wochen angekündigt. Das Wort Lockdown vermied er. Das Kabinett solle am Freitag Details beschließen.
Die Leipziger Volkszeitung hatte vorher berichtet, dass der CDU-Fraktionsvorstand am Mittwochabend bereits über einen Lockdown beraten hatte. Demnach könnten Großveranstaltungen in Sachsen verboten, Bars und Diskotheken geschlossen, Weihnachtsmärkte abgesagt werden.
In keinem anderen Bundesland ist die Coronalage so angespannt wie in Sachsen. Die landesweite Inzidenz liegt bei 761. Mehr als 1.500 Infizierte werden auf den Normalstationen der sächsischen Kliniken behandelt, 357 auf den Intensivstationen. Das überschreitet den von der Landesregierung festgelegten Schwellenwert, daher tritt nun die Überlastungsstufe in Kraft. Sie sieht schärfere Kontaktbeschränkungen und eine 2G-Pflicht vor. Denn zu den hohen Infektionszahlen kommt die niedrige Impfquote. Nur 58 Prozent der Menschen in Sachsen sind komplett geimpft – im Bundesschnitt sind es 68 Prozent.
Die Impfkapazitäten sollen deutlich aufgestockt werden. Zum Kummer von Sozialministerin Petra Köpping (SPD) wird nur in knapp der Hälfte der ungefähr 4.000 Arztpraxen geimpft, obwohl die Prämie pro Impfung auf 28 Euro erhöht wurde. Dafür sind 30 mobile Impfteams des Deutschen Roten Kreuzes im Land unterwegs. Eines findet sich am vergangenen Samstag im Dresdner Rathaus.
Die meisten Menschen hier stehen für ihre Auffrischungsimpfung an, darunter auch etliche Jüngere. „Missionierte“ ehemalige Impfgegner trifft man am Dresdner Rathaus nicht. Nur eine junge Frau, die lange krank war, oder ein älteres Paar, „das nicht eher dazu gekommen ist“. Epidemiologe und Statistiker Markus Scholz von der Universität Leipzig findet es momentan sogar wichtiger zu boostern als um Erstimpfungen zu werben.
Ein junger Impfarzt macht am Treppenabsatz Pause und blinzelt in die Herbstsonne. Viele kämen nur aus beruflichen Gründen oder weil eine geplante Reise den Schutz verlange, erzählt er. Beim Hinweis auf die scheinbar gute Resonanz winkt er verärgert ab. „Wenn es mal nicht zu spät ist … Wir hätten längst die Herdenimmunität haben können!“
Eine Ärztin aus dem Dresdner Universitätsklinikum, die anonym bleiben will, empört sich über die „sächsische Renitenz“. Gerade erst habe sie mit drei Pflegerinnen diskutieren müssen, die sich nicht impfen lassen wollen. Die Ärztin stammt aus Westdeutschland, auch mental weit weg von Sachsen, und steht sächsischer Sturheit und Ignoranz fassungslos gegenüber.
Die zur stationären Behandlung eingelieferten Covidpatienten seien zu 90 Prozent ungeimpft. Für sie wird Personal aus anderen Abteilungen abgezogen. Nicht akute Krebsoperationen werden als Erstes verschoben. Diese Patienten tragen also die Folgen der Verantwortungslosigkeit anderer mit. „Wer sich jetzt immer noch nicht impfen lässt, ist entweder dumm oder asozial“, sagt die Ärztin.
Knapp 300 Kilometer von Dresden entfernt, im thüringischen Ilmenau, sitzen Marcel John und Matthias Keschke. John ist Geschäftsführer der Ilm-Kreis-Kliniken, Keschke sein Pflegedienstleiter. In dem Besprechungsraum, in den sie geladen haben, fand bis vor zehn Minuten die wöchentliche Pandemiesitzung statt. Auch deswegen gilt hier während des gesamten Gesprächs: Maske auf und die regulären „einsfuffzich“ Abstand halten.
Marcel John und Matthias Keschke zögern bei der Antwort auf die Frage, ob ihre Klinik am Belastungslimit sei. Eine Triage drohe jedenfalls noch nicht. Aber der Gipfel der Belastung stehe sicher noch bevor.
Thüringen liegt nach Inzidenzen auf Platz drei hinter Sachsen und Bayern. Dass nun wieder zwei Ostländer die Negativstatistiken anführen, nachdem es in der ersten Welle vor eineinhalb Jahren vor allem die Westbundesländer waren, ist interpretationsbedürftig. Marcel John und Matthias Keschke wollen über die Gründe aber nicht spekulieren.
Die Stationen der Ilmenauer Klinik sind für Besucher geschlossen, auch für den Reporter. Nur noch zu Geburten dürfen werdende Väter mit hinein, auf der Palliativstation sind die trauernden Verwandten zugelassen. Gleich hinter dem Glaskasten des Empfangs befindet sich die unerbittliche Kontrollschranke. Personal oder Besucher, die sie passieren wollen, werden von Sensoren und einer Kamera gecheckt. Kontrolliert werden die Handdesinfektion, ein Mund-Nasen-Schutz und die Hauttemperatur an der Stirn.
Draußen startet ein Hubschrauber. Kein Rettungsflug, erklärt später Geschäftsführer Marcel John, sondern eine Verlegung nach Bad Berka. Noch ist die Intensivstation nicht überlastet, aber ein Coronapatient braucht zur Beatmung eine spezielle künstliche Lunge. Bad Berka ist eine sogenannte Level-1-Klinik. Krankenhäuser sind in drei Kategorien eingeteilt, wobei das Level 1 die schwierigsten Fälle übernimmt. Ist ein solches „Kleeblatt“ überlastet, werden Patienten in andere Bundesländer verlegt.
Es ist Marcel John und Matthias Keschke ein Bedürfnis, den Ärzten, Pflegekräften und allen Klinikmitarbeitern zu danken. In bewundernswerter Weise hielten viele die Pflege aufrecht, verzichteten jetzt sogar auf Urlaub. Aber es gebe auch andere, die resignieren. Selbst wenn es eine Impfpflicht für Mitarbeiter und deren gesetzliche Kontrollmöglichkeit gäbe, würde die Klinikleitung mit der Anwendung zögern. Dann könnten womöglich noch mehr abspringen, befürchtet der Anästhesist und Betriebswirtschaftler Marcel John.
Pflegechef Matthias Keschke weist darauf hin, dass die Pflege ein typischer Frauenberuf sei, also mit familiären Mehrbelastungen verbunden. Es räche sich die langjährige Verkennung und Unterbezahlung des Berufs. Ausländische Fachkräfte böten auch nicht die Generallösung, weil die Fluktuation unter ihnen hoch sei. „Es geht aber nicht nur um Geld“, betont Keschke. Entscheidend sei die Moral, und die habe auch unter den enttäuschten Hoffnungen auf die Wirkung von Massenimpfungen gelitten. „Mal zwei Tage frei haben“ würde schon den Dauerdruck lösen. Eine bewusst ermöglichte Regenerationsphase nach Überstehen dieser Infektionswelle wäre ein politisch interessanter Vorschlag, meint Geschäftsführer John.
Problematisch finden sie auch das Krankenhausfinanzierungssystem, das nur tatsächliche Leistungen honoriert und den Vorhalt an Notfallbetten überhaupt nicht stimuliert. Die Freihaltepauschalen für diese zeitweise ungenutzten Betten und die Verschiebung erlösträchtiger Operationen sind ausgelaufen, niemand weiß, wie es 2022 mit einem Ausgleich weitergeht. „Die Feuerwehr wird auch nicht nach Brandeinsätzen bezahlt“, vergleicht Geschäftsführer John.
25 Kilometer weiter westlich, hinter dem Rennsteigtunnel, liegt Suhl. Dort haben sich gerade die Skiliftbetreiber und Sportverantwortlichen der 34 Thüringer Wintersportorte zum Saisonauftakt getroffen. Im vergangenen Jahr fiel die Wintersportsaison wegen des Lockdowns fast komplett aus, die Zahl der Übernachtungen brach um drei Viertel ein. Im Jahr davor, 2019/20, hatte der Schnee gefehlt. Und trotzdem sind sie hier optimistisch: „Ähnlich wie andere Tourismusverbände gehen wir davon aus, dass es keinen erneuten Lockdown mit stillstehenden Liften und geschlossenen Hotels geben wird“ lautet der zentrale Satz der Pressemitteilung zum Saisonauftakt.
Stefan Ebert ist im Regionalverbund Thüringer Wald e. V. für die Eventregion Oberhof und den Wintertourismus zuständig. „Wir gucken positiv in diesen Winter“, sagt auch er und spricht von Hygienekonzepten der Liftbetreiber. Durchgesetzt werden sollen sie beim Kartenverkauf: Mehrtagestickets sollen nur an Geimpfte und Genesene und eventuell personalisiert verkauft werden. Und dann gebe es ja auch noch den Biathlon-Weltcup zum Jahresauftakt, die Rennrodel-WM 2023 und die Tour de Ski 2024 in Oberhof. Dem Ort im Rennsteig stehen ereignisreiche Winter bevor.
Gleichwohl sei der bevorstehende Winter „essenziell wichtig“, auch mit Blick auf die Vereins- und Nachwuchsarbeit, bremst Stefan Ebert dann selbst ein wenig. Wegen fehlender Impfnachweise seien im Gastgewerbe auch schon Besucher ausgefallen, die Lage ändere sich fast täglich. Seine für Kultur zuständige Kollegin Melanie Kardinar rechnet bei aller Zuversicht mit erneuten Einschränkungen, zum Beispiel für Weihnachtsmärkte.
Oberhalb, im traditionsreichen Wintersportort Oberhof, stößt man auf die gleiche Zuversicht wie beim Regionalverband. Arbeiter warten auf dem 842 Meter hohen Fellberg den Skilift. Wintersaison? „Die wird es geben!“ An Corona werde es jedenfalls nicht liegen, sagt ein Monteur. Am Bike- und Snowpark wird gebaut. 80 Millionen Euro soll die Thüringer Landesregierung in die Sportanlagen am Grenzadler investiert haben. Eine junge Sportlerin, mit dem Biathlon aufgewachsen, packt ihre Nordic Skates für das Rollentraining aus dem Auto. Sie versteht die Frage nach der bevorstehenden Skisaison fast nicht. Sie glaube fest daran.
Gelassenheit strahlt auch Hotelier Ralf-Peter Weber in Dessau aus. Nicht, weil die Infektionszahlen in Sachsen-Anhalt noch nicht so alarmierend gestiegen sind, sondern weil er nach dem Tief des vorigen Winters unabhängiger geworden ist. Sein Hotel „7 Säulen“ mit seinen 39 Betten liegt genau gegenüber den Meisterhäusern des Bauhauses wie auch in Sichtweite des Dessau-Wörlitzer Gartenreichs. Hotelier Weber kann sich auf Kulturtouristen und Radfahrer verlassen. Bis zum Regierungswechsel im Herbst war der promovierte Landwirtschaftsexperte Weber Staatssekretär im grün geführten Magdeburger Umweltministerium und wollte im Juni sogar Dessauer Oberbürgermeister werden.
Zwar würden Gäste jetzt wieder vorsichtiger und einzelne stornierten auch. Aber die meisten erfüllten ohnehin die 2G-Bedingungen. Er wünsche sich nur etwas mehr Logik und Ordnung in den Landesbestimmungen. „Vorsicht, aber keine Panik“, lautet Webers Devise.
Auch im großen Anhaltischen Theater Dessau trifft man auf einen panikfreien Generalintendanten Johannes Weigand. Jedenfalls musste sein 1938 eröffnetes Haus mit 1.070 Plätzen noch keinen Schicksalsschlag wie die Kollegen im nahen Halle hinnehmen. Wegen zehn Infizierten fiel in Halle beim „Tristan“ das Bühnenbild aus, die Vorstellung musste konzertant gespielt werden.
Der leger gekleidete Opernregisseur Weigand in Dessau erzählt, wie sich das Regionaltheater beizeiten auf einen Coronaspielplan eingestellt hat: Die Stücke sind kürzer, um das Ansteckungsrisiko zu minimieren. Die Inszenierungen werden so hygienisch wie möglich geplant: „Nicht ansingen, nicht anschreien“, lautete eine der Regeln. „Den Chor können Sie überhaupt nur mit Geimpften auf die Bühne bringen!“ Aber darauf kann sich der Intendant weitestgehend verlassen, ohne Druck auszuüben. Generell spricht Weigand von „großer Solidarität“ und hoher Moral unter den 300 Festangestellten. „Die wollen unbedingt arbeiten!“
Neben den seit Spielzeitbeginn geltenden 3G-Regeln werden im Anhaltischen Theater parallel auch 2G-Vorstellungen ohne Platz- und Maskenzwang angeboten. Die ersten Premieren seien im Herbst vom Publikum teils mit Tränen „sehr emotional gefeiert worden“. Dennoch: Auch er spüre die wachsende Angst. Im Jugendtheater blieben mittlerweile manchmal ganze Kitagruppen wegen einer Infektion fern.
Zurück in Sachsen stellt sich die Situation in der Kultur dramatischer dar. Der Musikklub „Sachsenkeller“ in Meißen wird ehrenamtlich geführt. Der Keller unter der ehemaligen Ingenieurschule ist auf den ersten Blick kaum zu entdecken. Umso überraschter ist man von den opulenten Gewölben. „Bei 30 oder 35 Leuten ist es noch gemütlich, bei 120 Gästen kann sich keiner mehr bewegen“, sagt Hans Jörg Seidel, der 1995 angefangen hat, selber Punk und Heavy Metal zu spielen.
Im Lockdown vor einem Jahr rutschte sein Klub durch alle Förderrichtlinien, weil er nicht hauptberuflich betrieben wird. Seither hat der Sachsenkeller trotz kulant halbierter Miete nicht wieder öffnen können. Ein Hygienekonzept müsste Mindestabstände und eine Belüftungsanlage zur Kreuzlüftung vorsehen, die man sich ohne Förderung nicht leisten kann. Selbst bei 2G oder 1G dürfte der Klub nicht öffnen. Spenden, Crowdfunding und die Initiative Kultur haben in diesem Jahr zumindest Outdoorkonzerte ermöglicht.
Hans Jörg Seidel hält angesichts der Ansteckungsgefahr auch über Geimpfte mehr von einem Antigentest vor Ort und Besucherlisten. „Lasst einfach die Menschen wieder Mensch sein und appelliert an die Eigenverantwortung und an die Verantwortung der Veranstalter“, wendet er sich gegen Ausgrenzung.
Wenige Kilometer elbabwärts von Meißen liegt das Weindorf Proschwitz mit Schloss und musikalischem Hofcafé. Nach Einführung der 2G-Regeln in Sachsen blieben dort 29 der 48 gemeldeten Gäste einem Otto-Reutter-Abend fern, offenbar Ungeimpfte. Ein Konzert am bevorstehenden Wochenende muss deshalb abgesagt werden.
Lothar Wieler, Chef des Robert Koch-Instituts, bei einer Diskussion mit dem sächsischen Ministerpräsident Michael Kretschmer
Aus dem gleichen Grund brach Bassist Kilian Forster seine renommierten Dresdner Jazztage ab, nachdem er im Vorjahr schon mit Lockdownbestimmungen kollidiert war. Auch im Vereinsleben und im privaten Umfeld ist in Dresden erhöhte Vorsicht, ja Angst zu spüren. Das Universitätsorchester sagte sein Semesterauftaktfest auch deshalb ab, weil man Ungeimpfte möglicherweise hätte ausschließen müssen. Auf private Einladungen hin häufen sich die Absagen.
Am Mittwochabend hat Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) zu einer öffentlichen Videokonferenz geladen. Zugeschaltet war auch der Chef des Robert Koch-Instituts (RKI), Lothar Wieler. Wieler, der schon in den letzten Tagen immer wieder öffentlich gemahnt hatte, sprach nun so alarmistisch wie selten. „Wir waren noch nie so beunruhigt wie jetzt“, sagte Wieler in die Kamera, es herrsche eine Notlage. Die Intensivstationen seien voll, die Infektionszahlen würden drastisch steigen. Der Politik warf er schwere Versäumnisse vor. Viele Bereiche seien zu früh geöffnet worden, Handlungsempfehlungen des RKI seien nicht befolgt worden. Es müsse nun noch mehr geimpft werden. Um das Tempo zu erhöhen, müsse auch in Apotheken geimpft werden. „Wir werden wirklich ein sehr schlimmes Weihnachtsfest haben, wenn wir jetzt nicht gegensteuern“, sagt Wieler. In den sozialen Netzwerken trendete daraufhin der Hashtag #dankeWieler.
Im Zentrum Dresdens reihen sich unterdessen die Weihnachtsbuden aneinander. Auch die Tanne des weltberühmten Striezelmarktes ist schon aufgebaut. Ob darunter in diesem Jahr der Weihnachtsmarkt stattfindet, ist derzeit mehr als fraglich.
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