Corona und soziale Ungleichheit: Die geteilte Stadt
Die Pandemie legt soziale Ungleichheiten offen: Arme sind stärker betroffen. Über den Alltag in einem reichen und einem armen Stadtteil in Hamburg.
F atima Mohammed* greift sich ans Herz: „Wenn ich schlafe, träume ich Corona. Das letzte Jahr ganz schlecht“, sagt sie. „Wache auf, ich kann nicht atmen, nur Panik.“ Sie sitzt mit ihrer Tochter Yasemin* auf den Stufen zu ihrer neuen Wohnung. Vier Zimmer für vier Personen, das ist Luxus auf der Hamburger Veddel, wo es Familien gibt, die zu siebt in zwei Zimmern leben.
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Von der Veddel, einem Stadtteil auf einer Elbinsel in Hamburg, wo etwa 4.500 Menschen leben, ist selten die Rede. Bis auf ein Mal, vor vier Jahren, als ein Künstler eine Wand mit echtem Gold bemalte und gefragt wurde, ob das Geld gut angelegt sei. Und jetzt spricht man wieder von ihr, weil die Corona-Inzidenz dort mit Abstand die höchste der Stadt ist. Zwischen Februar 2020 und März 2021 lag sie bei 7.978 Fällen pro 100.000 Einwohner. Im reichen Blankenese waren es 1.457.
Das ist nicht nur in Hamburg so: In ganz Deutschland ist Corona zu einer Krankheit geworden, die die Armen häufiger und schwerer trifft. Als hätte es eine Pandemie gebraucht, um daran zu erinnern, wie unterschiedlich es sich in den verschiedenen Stadtteilen lebt. Auf hohe Inzidenzen in Hochhäusern wird nun geschaut, auf die niedrigen in Einfamilienhäusern selten.
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Gerade scheint der Coronabrand eingedämmt, die Fallzahlen sinken, in Hamburg besonders schnell. Also alles wieder in Ordnung? Vielleicht ist es auch nur eine Atempause. In jedem Fall kann man auf die Veddel fahren und dann die 19 Kilometer, immer der Elbe entlang, nach Blankenese reisen, wo um die 13.500 Menschen wohnen, um zu fragen: Wie habt ihr mit Corona gelebt? Warum sind hier so viele krank und dort so wenige?
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Blankenese, das ist der Rückzugsort der Reichen, ein großbürgerliches Villenviertel mit Parks, einer kleinen Einkaufsstraße mit Boutiquen und dem Treppenviertel mit seinen kleinen Gassen, wo sich im Sommer die Touristen zwischen den Villen und ein paar adretten Fischerhäusern drängen.
Die Veddel, das ist ein alter Arbeiterstadtteil mit dunkelroten Backsteinbauten aus den 20ern, die wirken, als habe ein Riese sehr eng Bauklötze zusammengelegt. Dort leben Menschen aus 60 Nationen, zwischen Elbe, Autobahn und Eisenbahnstrecke, direkt neben einer großen Kupferhütte. Es ist ein Dorf, heißt es immer, aber das Idyll muss man erstmal suchen. „Lange von der Stadt vergessen“, das schreibt selbst das Hamburger Stadtmarketing über die Veddel, als sei es ein vernachlässigtes Kind.
Der Mann von Fatima Mohammed hat früher Brot ausgeliefert. Als Corona kam, ging er in Kurzarbeit, dann hat man ihm gekündigt. Sie arbeitet stundenweise als Betreuerin in der Schule. Aber wenn ihre eigenen Kinder, der achtjährige Sohn und die elfjährige Tochter wegen des Wechselunterrichts zu Hause sind, bleibt sie bei ihnen. Dann gibt es kein Geld. „Es ist ein bisschen schwer“, sagt Fatima, dann korrigiert sie sich, „ganz schwer“. Ihr Mann bekommt 600 bis 700 Euro, sie 300 bis 400 Euro, damit kommen sie mit dem Kindergeld auf knapp 1.600 Euro, derzeit zahlen sie 650 Euro Miete.
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Sie sorgt sich um den Sohn, der Diabetes hat, sorgt sich um die Tochter, deren Mathenachhilfe nicht kommt, weil sie Angst vor Ansteckung hat. Fatima Mohammed versteht das, sie hat ja selber Angst. „Aber sie muss die sechste Klasse gut schaffen, wenn weiter ins Gymnasium“, sagt die Mutter. „Ich möchte Ärztin werden oder Apothekerin oder Journalistin“, sagt die Tochter, die im benachbarten Wilhelmsburg aufs Gymnasium geht. Das sind ehrgeizige Pläne auf der Veddel.
Fünf Prozent der Schüler:innen auf der Stadtteilschule schaffen die mittlere Reife oder eine gute Ausbildung, erzählt eine Lehrerin, die auf der Veddel unterrichtet. Das ist die Sahneschicht. Es sei wie eine Spirale, sagt sie, wenn die Eltern einen kleinen Schritt voran gemacht haben, dann machen die Kinder die nächsten. „Die allerwenigsten schaffen es aus eigener Kraft.“
In Blankenese waren die Mohammeds noch nie. Es ist mühselig genug, ins benachbarte Wilhelmsburg zu kommen, wo es einen Supermarkt gibt, der Masken verkauft. Es ist sehr unterschiedlich, was die Veddeler:innen über ihr Leben mit Corona erzählen, aber eins sagen wirklich alle: Was für ein Elend, dass ausgerechnet im Dezember Penny, weit und breit der einzige Supermarkt auf der Veddel, abgebrannt ist. Und seit Schlecker vor fast zehn Jahren insolvent ging, gibt es keine Drogerie mehr. Eine regionale Kette hatte abgelehnt – die Kaufkraft sei zu klein. Seit zwei Jahren gibt es wenigstens wieder eine Apotheke.
Das Erste, was einem in Blankenese auffällt, ist der Vogelgesang. Der kommt aus den großen Gärten rings um die Villen. Einige SUVs stehen davor. „Herumprotzen ist in Blankenese verpönt“, wird die Stadtteilmanagerin später sagen. Ein Junge in kurzen Hosen mit Hockeyschläger radelt vorbei.
Die Schmidts* wohnen in einem kleineren Backsteinhaus, am Eingang stehen Fahrräder. Im Wohnzimmer ein Podestbett, daneben eine Trommel und ein Klavier, es riecht ein wenig nach Räucherstäbchen.
Ole Schmidt* und seine Frau haben zwei Kinder, er arbeitet in einem Außenhandelsunternehmen, sie ist Yogalehrerin, aber gerade in Elternzeit. Ihre Einkommensverhältnisse sind alles andere als typisch für Blankenese: mit seinem Gehalt und dem Kindergeld kommen sie auf 3.100 Euro. Sie selbst finden, dass sie gut damit auskommen. Das funktioniert, weil sie in einer foodsaver-Gruppe mitmachen, die Oma die Kinderschuhe spendiert und sie ansonsten vor allem second hand kaufen. Wie er sein Leben in Blankenese einordnet? „Wenn man sich mit dem Rest der Welt vergleicht, ist es absoluter Luxus: eine sichere Gegend, die Luft ist wunderschön“, sagt Ole Schmidt.
Typisch blankenesisch
Typisch blankenesisch ist, dass beide hier aufgewachsen und als junge Eltern zurückgekommen sind. Typisch ist, dass sie viel Platz haben, mit ihrer 100m2- Wohnung allerdings weniger als die knapp 60 Quadratmeter, die man durchschnittlich pro Person in Blankenese zur Verfügung hat. Typisch ist, dass sie einen hohen Bildungsabschluss haben. Typisch ist, dass sie einen Garten haben, in dem die Kinder während des Lockdowns mit anderen spielen konnten..
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Die Schmidts sind vorsichtig. Als ein Kollege von Ole positiv auf Corona getestet wurde, blieb die Familie eine Woche zu Hause, obwohl Oles Test negativ war. Er arbeitet halb im Homeoffice, halb in der Firma. Die 14 Kilometer dorthin fährt er mit dem Rad. Über das Coronajahr hinweg war immer mal jemand in der Familie erkältet, dann haben er oder seine Frau einen Großeinkauf gemacht und alle blieben eine Woche daheim.
In Blankenese ist Corona weitestgehend abstrakt; auf der Veddel dagegen ist Corona sehr konkret. „Viele Kinder sehen sehr schwere Verläufe bei Eltern und Großeltern“, sagt eine Lehrerin, die dort unterrichtet. Nachdem auf der Grund- und Stadtteilschule im letzten November 100 Schüler:innen und Lehrkräfte positiv getestet worden waren, schloss man die ganze Schule. In Blankenese gab es nur einzelne Klassen, die in Quarantäne mussten.
Weil das Hin und Her mit der Kita anstrengend war, mal geschlossen, mal geöffnet, haben die Schmidts den älteren Sohn aus der Betreuung genommen. „Wir haben mit den Nachbarn eine eigene Kohorte gebildet“, sagt Ole Schmidt. Natürlich sei es sonderbar, die anderen jetzt zu fragen: „Alles gut?“ und zu meinen: „Zeigt niemand Symptome?“ Die Kinder kommen ins Wohnzimmer, der Große klettert aufs Podestbett. „Wir wollten doch noch lesen“, sagt die Mutter und sammelt ihn ein.
Was Ole Schmidt zur Veddel einfällt? Er hat Freunde dort gehabt, ein bisschen alternativ, die eine Partyreihe gemacht haben, und die Clubs dort hat er in guter Erinnerung.
Zu Beginn der Pandemie schien es, als mache Corona alle gleich. Doch die soziale Blindheit des Virus stellte sich rasch als Irrtum heraus. Erst schlug das Pendel in Richtung der sozial besser Gestellten aus, um sich dann auf die Seite der Ärmeren zu richten. In der ersten Welle waren vor allem Menschen aus „weniger deprivierten Regionen Deutschlands“, so nennt es das Robert Koch-Institut, betroffen: weil sie mehr reisten, etwa in den Skiurlaub, oder Berufspendler waren. In der zweiten Welle hat sich das Verhältnis umgedreht.
Das hatten Studien schon prognostiziert. Das Kompetenznetz Public Health Covid-19 veröffentlichte im Mai 2020 ein Papier, in dem es drei Gründe für das höhere Risiko der Armen nennt: sie sind dem Virus stärker ausgesetzt, weil sie seltener zu Hause arbeiten können, öfter beengt leben und den öffentlichen Nahverkehr nutzen. Sie sind gesundheitlich anfälliger, weil sie häufiger Vorerkrankungen haben. Und sie sind medizinisch schlechter versorgt. Die Autor:innen der Studie haben empfohlen, dies beim Umgang mit Corona zu berücksichtigen.
Gesundheit und soziale Schicht korrelieren
Passiert ist das lange nicht. Die soziale Dimension von Gesundheit „ist auch in normalen Zeiten unterbelichtet“, sagt Nico Dragano, der an der Uni Düsseldorf zu gesundheitlichen Ungleichheiten forscht. Wenn man Gesundheit als etwas sozial Bestimmtes versteht, kommt man auf grundsätzliche Fragen: Wohnverhältnisse, Arbeitsverhältnisse. Kein Wunder, dass sich niemand danach drängt, derart dicke Bretter anzubohren.
Auf der Veddel gibt es seit 2018 ein Kollektiv, das das ändern will: die Poliklinik. Als sie begann, konnte sie einem wie ein Ufo erscheinen. 25 Leute verschiedenster Fachrichtungen von Medizin über Sozialarbeit bis zu Psychologie, die dorthin gegangen sind, wo der Bedarf hoch und der Verdienst mäßig ist. Dabei stünde es ihnen frei, das zu tun, was die meisten Ärzt:innen in Hamburg tun: sich dort niederzulassen, wo es viele Privatpatient:innen und weniger chronisch Kranke gibt.
Hamburg gilt für die Kassenärztliche Vereinigung als ein Gebiet, es gibt keine Quote für einzelne Stadtteile. Folglich regelt der Markt, welcher Arzt sich wo niederlässt.
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Als die Poliklinik auf die Veddel kam, gab es nur noch eine praktizierende Ärztin dort. „Wir fragen nach gesundheitlicher Chancengleichheit“, steht auf der Internetseite der Poliklinik und das ist untertrieben, denn sie fordert sie ein. Sie betreibt inzwischen drei Arztsitze; damit versorgt durchschnittlich ein Arzt auf der Veddel 1.492 Menschen. In Blankenese ist die Quote 1: 604 und da sind die 82 Fachärzt:innen, die es dort auch noch gibt, gar nicht berücksichtigt.
Die Leute von der Poliklinik haben eine Veddel-Hotline organisiert, für solidarische Einkaufshilfe, aber auch für Ansprache und Kochhilfe. „Solidarisch“, das ist das Wort, das immer wieder auftaucht, es wirkt wie eine Mischung aus Beschwörung und Beschreibung.
Aber Solidarität erfordert Sichtbarkeit. Um genauer herauszufinden, was die Veddeler:innen zurzeit brauchen, hat die Poliklinik 500 Fragebögen in die Briefkästen gesteckt, aber es sind nur 60 ausgefüllt zurückgekommen. Nach draußen zu können wäre hilfreich, so der Tenor der Antworten. Die Poliklinik hat deshalb zusammen mit der Kirche ein Gartenbauprojekt organisiert.
Emine Ak* arbeitet ehrenamtlich im Café Nova der Immanuelkirche, zuletzt hat sie Bastelpakete für Kinder organisiert. Wir treffen uns im Gemeindesaal, Ak hat ihre Freundin Fatma Yaman* mitgebracht. Beide haben drei Kinder, beide arbeiten im Gesundheitsbereich, beide haben drei Jobs, beide waren mehrmals in Corona-Quarantäne.
Die Quarantäne war kein Problem, das sagen beide. Ak hat zwei Söhne, 26 und 12 Jahre alt, der Große studiert internationales Management und schläft im Wohnzimmer. Die Tochter ist 19, macht eine Ausbildung als medizinische Fachangestellte und teilt sich ein Zimmer mit dem Jüngsten. Die Aks machen ganz offensichtlich einen Schritt nach oben.
Emine Ak, die immer vorsichtig war – „ich habe die Türknöpfe desinfiziert“ – verbrachte die Quarantäne „im Schlafzimmer eingesperrt“. Sie sagt es gut gelaunt. Wenn sie zur Toilette musste, rief sie mit dem Handy an, damit der Rest der Familie ihr nicht begegnete. Sie arbeitet in einer Dementen-WG, deshalb testet sie sich regelmäßig und merkte so auch, dass sie sich infiziert hatte. „Ich habe mich körperlich wohl gefühlt“, sagt sie, „und es war auch mal gut, zehn Tage im Bett zu sein, mit dem Laptop, und nichts zu tun“.
„Zu Beginn war es schwierig“, sagt Fatma Yaman, „die Kinder wollten raus. Aber nach ein paar Tagen haben sie sich gewöhnt.“ Der 10-jährige Sohn vermisst das Fußballspielen. Und doch: „Bei uns ist es nicht spannend“, sagen alle beide. „Wir sind aktiv, haben drei Kinder und drei Jobs. Es ist wie im Bilderbuch.“ Es seien immer wieder sie, die gefragt würden, wenn Veddeler für die Anfragen der Presse gesucht werden. Aber eigentlich müsste man mit anderen Familien sprechen, sagen Ak und Yaman. Solchen, denen es wirklich schlecht geht. Aber: „Die werden nicht mit Ihnen sprechen.“ Warum nicht? „Weil sie nichts davon haben.“ Eine letzte Frage: Was ihnen zu Blankenese einfällt? „Da ist es schön. Da gehen wir spazieren.“
Arme infizieren sich häufiger
Warum infizieren sich arme Menschen häufiger mit Corona? Das ist eine einfache, aber entscheidende Frage und zugleich vermintes Terrain. Als die Bild-Zeitung kolportierte, Lothar Wieler, der Präsident des Robert Koch-Instituts, habe gesagt, dass 90 Prozent der Coronapatient:innen auf den Intensivstationen einen Migrationshintergrund hätten, entgegnete die islamisch-türkische Religionsgemeinschaft Ditib, es sei „unredlich und unprofessionell“, die Verantwortung für die Pandemie bei Minderheiten zu suchen. Das RKI relativierte die Aussagen: Es sei nur um die Situation in drei Kliniken gegangen.
Im inoffiziellen Diskurs der sozialen Netzwerke konnte man dagegen eindeutige Schuldzuweisungen finden, etwa nach einer aufgelösten türkischen Großhochzeit in Dortmund. Aber es gibt keine statistische Grundlage dafür. In Hamburg schlüsselt die Polizei die Verstöße gegen Coronaverordnungen nicht nach Stadtteil auf. Und doch, fragt man die Menschen, die auf der Veddel leben, nach den Gründen für die hohe Inzidenz, dann sehen sie die Gründe nicht in den Strukturen, sondern im Verhalten von Einzelnen.
„Den albanischen Männern geht es am Arsch vorbei“, sagt Emine Ak. Die albanischen Männer, das sind für sie die, die an der Straße zum Bahnhof in Gruppen, ohne Masken, ohne Abstand vor den Cafés stehen. „90 Prozent hier sind solidarisch“, sagt Ak. „Zehn Prozent sind es nicht.“
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„Es treffen sich Familien zu Verlobungsfeiern mit zehn bis 15 Leuten“, sagt Fatma Yaman.
„Ich verstehe sie auch“, sagt Emine Ak.
„Eine Freundin von mir trifft sich ständig und wenn ich etwas dazu sage, sagt sie:,Ist doch nichts'. Sie hat einfach einen Knall“, sagt Fatma Yaman.
Tina Röthig von der Poliklinik wirft einen anderen Blick auf die Männer vor den Cafés: „Ich weiß, warum die Männer hier auf der Straße stehen. Die arbeiten auf dem Bau. Und ihre Arbeitgeber geben ihnen keine Coronatests.“ Sie findet diese Art von Diskussion abwegig. „Das ist eine klassistische Perspektive. Da wird die Verantwortung abgewälzt auf individuelles Verhalten. Die meisten sind informiert – aber sie können sich nicht schützen.“
Wer hat welche Verantwortung? Die Mitarbeiter:innen der Poliklinik scheinen kaum in solchen Kategorien zu denken und vielleicht funktioniert ihre Arbeit nur deshalb. „Was erreicht die Leute?“, fragen sie und stehen damit quer zu dem, wohin das Gesundheitswesen neigt: die Verantwortung den Leuten selbst zu geben. Ernährt euch gut, bewegt euch – dann bleibt ihr gesund und belastet nicht ein Gesundheitssystem, das ohnehin ächzt. Strengt euch doch an, ruft die bürgerliche Mitte denen zu, die unten krauchen, wir tun es auch.
Abstand halten fällt überall schwer
So wenig Gemeinsamkeiten man zwischen Veddel und Blankenese finden kann, eine gibt es doch: Auch in Blankenese berichtet man von Menschengruppen vor Cafés. Im sogenannten Dorf beim Marktplatz stünden bis zu 80 Leute beieinander, heißt es, und tränken in Kleingruppen ohne all zu viel Abstand ihren Kaffee. Nur weil die Inzidenz in Blankenese so gering ist, zieht das keine größeren Kreise.
Kreise zieht dagegen gerade die Frage, wer sich impfen lässt – und wer nicht. Man kann immer wieder von der mutmaßlichen Impfskepsis der Armen und Bildungsfernen lesen – dabei gibt es bislang keinerlei Belege dafür. Studien zur Einstellung gegenüber anderen Impfungen legen eher das Gegenteil nahe: Die zeigen einen U-förmigen Verlauf mit hoher Zustimmung bei sozial Benachteiligten und sozial besonders Privilegierten und weniger Zustimmung in der Mitte.
Auch Jonas Fiedler, Arzt an der Poliklinik auf der Veddel, hat bislang keine Impfvorbehalte feststellen können außer denen gegenüber AstraZeneca, die überall zu finden seien. „Was wir an Impfdosen haben, verimpfen wir“, sagt er. Zahlen zur Impfquote auf der Veddel gibt es nicht, weil die Leute nicht nur vor Ort geimpft werden. Eines lässt sich immerhin sagen: Der Bedarf ist so, dass Fiedler mit der Poliklinik zu einer Impfoffensive auf der Veddel und in anderen armen Stadtteilen aufgerufen hat.
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Eigentlich schien der Moment günstig: In Köln schickte man ein Impfmobil in den Stadtteil Chorweiler, wo die Inzidenz ebenso stark gestiegen war wie auf der Veddel. Politiker:innen übernahmen die Forderung. Doch der Hamburger Senat winkte ab; das sei mit der Impfverordnung nicht vereinbar. Aber kurz danach schuf die Gesundheitsbehörde ein Kontingent für Praxen in unterversorgten Gegenden. In der ersten Woche erhielt die Poliklinik 100 zusätzliche Dosen. Zurzeit, sagt Fiedler, sei die Versorgung mit Impfstoff nicht das Problem. Sondern die mit Geld für Räume und Personal.
Gibt es Impfangst auf der Veddel? Fatima Mohammed ist zögerlich. „Viele Leute sagen, dass die Leute davon blind werden“, sagt sie.
Überbordende Müdigkeit
Unten im Haus von Tina Owuso* hängt ein Plakat der Poliklinik mit Hilfsangeboten, daneben eines mit Corona-Hygieneregeln. Der Putz in den Ecken bröckelt. Tina Owuso sitzt in ihrer Küche, in deren Mitte ein riesiger Karton mit einem neuen Kühlschrank liegt. Eine Bekannte hat ihn für sie gekauft, weil Owuso „Schufa hat“, so übersetzt es ihr 17-jähriger Sohn Kofi*. Schufa haben, das klingt wie eine Krankheit. Auf dem schmalen Küchentisch steht eine Flasche mit Desinfektionsmittel. Tina Owuso sitzt daran in einer wattierten Jacke, als fröre sie auch drinnen.
Die Küche wirkt sonderbar leer, aber was vor allem fehlt, ist so etwas wie Hoffnung. Tina Owuso glaubt nicht, dass die Impfung wirklich gegen Corona hilft, und sie fürchtet die Nebenwirkungen. Sie fürchtet sich davor, etwas anzufassen. „Viel Angst“, sagt sie. Ihren Putzjob hat sie noch vor der ersten Welle verloren, weil sie wegen ihrer Rückenschmerzen zu viele Krankheitstage hatte. Eine Zeit lang war es gutgegangen, da hat sie vor allem Toiletten gesäubert und Müll rausgebracht, aber vom Putzen bekommt sie Schmerzen. „Sie würde gern verpacken“, sagt ihr Sohn, „aber es ist wegen Corona schwer, Arbeit zu finden.“ Er selbst macht gerade ein Praktikum an einer Tankstelle, weil er Einzelhandelskaufmann werden will. „Da ich sozusagen jung bin, kann mir nichts passieren“, sagt er zu Corona. Sozusagen, das sagt er häufig, als sei den Dingen nicht wirklich zu trauen.
Tina Owuso macht gerade einen Deutschkurs, aber oft ist sie krankgeschrieben oder müde. „Alles so viel Denken“, sagt sie. „Sie ist sozusagen überfordert“, übersetzt ihr Sohn. „Wenn sie arbeitet, tut sie etwas. Arbeit ist gut, weil sie da Geld verdient.“ „Ich habe nicht gut lesen, nicht gut schreiben“, sagt Tina Owuso. Und Kofi übersetzt: „Weil sie älter ist, fällt es ihr schwer, sie muss so lange überlegen, was da steht. Der Lehrer ist nervig. Wenn sie fünf Minuten zu spät kommt, schreibt er einen Brief ans Arbeitsamt, als wären sie kleine Kinder.“
Wenn man bei der 52-jährigen Tina Owuso in der Küche sitzt, weht einen etwas von einer sehr grundsätzlichen Müdigkeit an. Einer Müdigkeit, die von einem Leben rührt, in dem die ganze Kraft sich darin verbraucht, einen prekären Alltag am Laufen zu halten. Kofi, der Sohn, wird unruhig. Ob man ihn noch brauche als Übersetzer? Denn er muss los, um bei der Bank etwas abzubezahlen. Auf dem Rückweg sehe ich ihn an der Bushaltestelle. Die S-Bahn verspätet sich, weil ein Zug auf der Strecke liegen geblieben ist. Zwei Leute nehmen ein Taxi. Die anderen warten im Regen. Als der bereits volle Bus kommt, quetschen sich noch ein paar hinein. Von Abstand keine Spur.
Druck – vielleicht ist das der geeignete Begriff, wenn man über Corona nachdenkt und wie es sich damit lebt. Welchen Druck man erfährt und welche Ventile man dafür hat. „Die Eltern geben den Druck, den wir Lehrer ihnen machen, an die Kinder weiter“, sagt die Lehrerin von der Veddel. Corona bedeutet hier die verschärfte Fortsetzung eines Alltags mit Schreien, mit Händen, die gelegentlich ausrutschen.
Sie erzählt von einem Schüler, dessen Eltern arbeitslos waren, man stand um 13 Uhr auf, Abendbrot gab es um 23 Uhr. „Die Stimmung war in der Familie nahezu depressiv, da ist es total unrealistisch, dass das Kind um acht Uhr zur Zoom-Konferenz aufsteht.“ Die Lehrerin hat versucht zu erklären, dass das Kind auf die Eltern angewiesen ist, um zurechtzukommen. Und tatsächlich: es hat funktioniert. Aber oft tut es das nicht. „Ganz viele Kinder gehen uns verloren“, sagt sie.
Die Lehrerin hat im Unterricht mit den Schüler:innen viel über Helfen und Spenden gesprochen. Und eines wurde sehr klar: diese Veddeler Kinder sehen sich nicht am Ende der Leiter. Und sie haben genügend Reserven, um Anteil am Unglück anderer zu nehmen: „Die armen Kinder in Afrika“, sagen sie, „die armen Tiere.“
Der Druck wird weitergegeben
Und der Druck in Blankenese, wo man annehmen muss, dass die Ventile zahlreich sind? Ein paar Eltern fühlten sich gestresst durch die Doppelbelastung Beruf und Homeschooling, sagt eine Lehrerin, die dort unterrichtet. Aber es klingt durch, dass sie den Stress für überschaubar hält. „Was ich gut finde“, sagt die Lehrerin, „wie wenig die Kinder versäumt haben.“
In Blankenese sind die Schulkinder nicht verlorengegangen. Der Druck nimmt dort einen anderen Verlauf; er kommt von den Eltern selbst. „Wie sich die Leute hier zerfleischen“, sagt Sabine Juchheim, die Quartiersmanagerin von Blankenese. „Die Eltern bekleiden sehr gute Positionen, und es herrscht große Angst, auf der Leiter abzusteigen.“ Bemerkenswert, dass selbst in Blankenese, wo das Durchschnittseinkommen bei 117.139 Euro liegt – auf der Veddel sind es 15.831 Euro –, die Unsicherheit mit am Tisch sitzt.
Aber noch etwas ist der Quartiersmanagerin aufgefallen: wie belebt der Blankeneser Markt seit Coronazeiten wieder ist. Es kommen Leute von auswärts, es kommen Blankeneser:innen, die nicht in ihre Ferienhäuser auf Sylt ausweichen können. Corona als Chance. Das haben zu Beginn der Pandemie viele gesagt, inzwischen sind die Stimmen leiser geworden.
„Wir leben jetzt viel zurückgezogener, und weil die Kinder so klein sind, ist es voll schön“, sagt Ole Schmidt. Man nimmt es der Familie ab, dass sie der Pandemiezeit etwas abgewinnen kann, weil sie sie sich mehr auf ihr Miteinander konzentriert. „Viele Eltern haben wieder einen größeren Draht zu ihren Kindern“, sagt die Blankeneser Lehrerin am Telefon.
Und auf der Veddel, was bleibt dort? Für einige das Wissen, dass im Notfall die Familie hilft, dass Nachbarn einkaufen, Bekannte Kredite geben.
Die Menschen auf der Veddel und die in Blankenese begegnen sich kaum. Die Inzidenz auf der Veddel ist explodiert, während die in Blankenese sank. Das trägt kaum dazu bei, sich als Teile, die füreinander Sorge tragen müssen, damit das Ganze funktioniert, zu begreifen. Es sei denn, man erkennt ganz pragmatisch, dass sich die Frage, ob die Blankeneser:innen wieder nach Sylt reisen können, auch auf der Veddel entscheidet. Erkennt, dass unsere Gesellschaft so verzahnt ist, dass es nicht ausreicht, wenn es nur einem Teil gutgeht.
*Namen geändert
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