Corona-Politik: Long, long Covid
Die Infizierung mit dem Virus erhöht das Risiko weiterer schwerer Erkrankungen. Für eine Entwarnung ist es deshalb noch viel zu früh.
H and aufs hoffentlich nicht coronageschundene Herz: Es war zermürbend, immer neu zu hoffen, dass die Pandemie nun aber wirklich bald überstanden wäre – und immer wieder enttäuscht zu werden. Zumal es gratis dazu den düsteren Blick in stetig eskalierende „Querdenker“-Abgründe gab. Und dann kam ja erst 2022 mit seinem ganz eigenen Horrorlevel. Diese emotional äußerst fordernde Gesamtlage hat nun offenbar dazu geführt, dass Corona wie eine Art nervige Randerscheinung wahrgenommen wird.
Da können sich besorgte Menschen die Finger wundtwittern, um alarmierende neue Studien unters Volk zu bringen – es findet nur noch individuellen Widerhall. Verständlich, aber nicht gut. Und dann sagte diese Woche ausgerechnet Thomas Mertens, Chef der Ständigen Impfkommission, er gehe davon aus, dass sich sowieso alle mehrfach mit Corona anstecken würden. Und junge, gesunde Menschen müssten sich nicht noch ein viertes Mal impfen lassen.
Mertens sprach nonchalant von einer durch bisherige Impfungen und Infektionen erreichten „Basisimmunität“ in der Bevölkerung. Wie passt das mit der aktuellen Impfkampagne des Gesundheitsministeriums zusammen, mit der Minister Karl Lauterbach zu Vorsicht und zu einer vierten Impfung aufruft? Es passt gar nicht, sondern es ist nur typisch für die vielen widersprüchlichen Informationen, mit denen die Menschen im Land zurechtkommen müssen.
Die Hoffnung darauf, dass man irgendwann immun gegen Corona sein wird, hat sich doch längst erledigt. Reihenweise infizieren sich die Menschen zum zweiten und dritten Mal. Wie kann der Chef der Stiko öffentlich ignorieren, wie gefährlich es ist, sich mehrfach mit Corona anzustecken? Das Virus kann nach dem derzeitigen Stand der Wissenschaft schwere Schäden in mehreren Organen und in den Blutbahnen anrichten.
Fast 30 Prozent mehr tödliche Herzinfarkte
So hat ein Forschungsteam aus Los Angeles die Verbindung von Covid-19 und einem gestiegenem Herzinfarktrisiko untersucht. Seit Beginn der Pandemie ist der Studie zufolge die Zahl der tödlichen Herzinfarkte in den USA immer analog zur jeweiligen Infektionswelle angestiegen – und zwar am auffälligsten bei Menschen zwischen 25 und 44 Jahren. Im Vergleich zu dem, was man normalerweise in dieser Altersgruppe erwartet hätte, betrug hier der Anstieg fast 30 Prozent.
Auch während der angeblich milderen Omikron-Wellen. Und gerade erst belegte eine Studie namens Epiloc aus Baden-Württemberg, dass mehr als 20 Prozent der 12.000 untersuchten Menschen noch sechs bis zwölf Monate nach ihrer Infektion an Einschränkungen litten. Chronische Müdigkeit, Erschöpfung, Konzentrationsschwierigkeiten oder Gedächtnisstörungen, Atembeschwerden und Kurzatmigkeit, veränderter Geruchssinn sowie Ängste und depressive Symptome gehören dazu. 20 Prozent!
Viele von diesen Menschen können, wie es die Autorin Margarete Stokowski von sich berichtet, lange, lange nicht in ihr normales Leben zurück. Bei der aktuell hohen Zahl an Neuinfektionen ist das auch gesellschaftlich keine gute Aussicht. Karl Lauterbach hat mit seiner neuen Impfkampagne und Stokowskis Hilfe versucht, die Aufmerksamkeit noch einmal auf das Problem zu lenken. Die auffälligste Reaktion war, dass Stokowski hämisch angegangen wurde.
Menschen mit dem Wunsch nach einer vierten Impfung berichten davon, dass sie unverrichteter Dinge von Praxen als nicht qualifiziert wieder weggeschickt werden. Wer oder was gerade irgendwo wegen Corona ausfällt, welche Krankenhäuser „Land unter“ melden: Diese Informationen bilden ein unangenehmes, aber offenbar folgenloses Hintergrundrauschen der aktuellen Wahrnehmung.
Was ist zu tun? Vielleicht nur noch hoffen, dass die Warnungen wenigstens bei einzelnen Menschen ankommen, die sich dann besser schützen. Wie die Gesellschaft aber am Ende mit der zu erwartenden hohen Zahl an Long-Covid-Geschädigten umgehen wird – die Frage bleibt, egal wie sehr man jetzt an der Gefahr vorbeischielt. Das Gesundheitsministerium sollte darauf vorbereitet sein, sie zu beantworten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
US-Interessen in Grönland
Trump mal wieder auf Einkaufstour
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Mangelnde Wirtschaftlichkeit
Pumpspeicher kommt doch nicht
Täter von Magdeburg
Schon lange polizeibekannt