Stiko-Chef Mertens zur Nachimpfung: „Erkenntnisse brauchen Zeit“

Sollen Risikogruppen nachgeimpft werden? Stiko-Chef Thomas Mertens findet das politisch verständlich, wissenschaftlich sei das aber nicht gedeckt.

Eine Frau sitzt hinter einem Vorhang und wird geimpft, dahinter Blick ins Grüne

Dritter Shot? Viele haben nicht einmal den ersten! Open-Air-Festival im Juli Foto: Nicolas Armer/dpa

taz: Herr Mertens, gerade mal die Hälfte der Bevölkerung ist voll geimpft, da reden wir schon von Auffrischungsimpfungen. Ist das wirklich nötig?

Thomas Mertens: Es gibt ganz sicher Gruppen von Menschen, bei denen eine baldige Nachimpfung sinnvoll ist, dazu gehören vor allem immunsupprimierte Menschen.

Also Menschen, deren Immunsystem nach einer Organtransplantation unterdrückt wird.

Zum Beispiel. Außerdem wissen wir aus Laborstudien, dass ältere Menschen im Durchschnitt schlechtere Immunantworten haben als jüngere und dass diese Immunreaktion auch über die Zeit nachlässt.

Sie könnten also nach gewisser Zeit trotz Impfung schwer an Covid-19 erkranken?

Das wissen wir noch nicht. Die Frage der Dauer des Impfschutzes vor Erkrankung ist derzeit wissenschaftlich nicht beantwortet. Die Laborwerte geben da nur eine Hilfestellung, sind aber ganz sicher keine absolute Antwort.

Der 71-Jährige ist seit 2004 Mitglied der Ständigen Impfkommission (Stiko) und seit 2017 deren Vor­sit­zender. Bis 2018 war er Ärztlicher Direktor des Ulmer Instituts für Virologie.

Warum wird überhaupt davon ausgegangen, dass die Impfung nicht lebenslang hält wie bei Masern oder wenigstens zehn Jahre wie bei Tetanus?

Das hängt zum einen mit dem Impfstoff zusammen. Die Impfstoffe müssen im Idealfall das gesamte Immunsystem „scharf“ machen. Nun wissen wir aber, dass die Impfstoffe, die wir derzeit verwenden, sehr gezielt neutralisierende Antikörper und eine T-Zell-Immunität generieren. Diese Immunantwort ist aber nicht so breit wie bei jemandem, der eine Infektion durchgemacht hat, weil da noch andere Antigene ins Spiel kommen.

Und der andere Faktor?

… ist der Erreger selbst. Es gibt Viren wie das Poliovirus oder das Hepatitis-A-Virus, die auch bei natürlicher Infektion eine lebenslange Immunität hinterlassen. Und es gibt andere Viren, bei denen das nicht der Fall ist. Das gilt gerade auch für die Corona-Schnupfen-Viren, die schon lange bei uns unterwegs sind. Es war also schon ­vorher anzunehmen, dass es auch bei Sars-Cov-2 nicht zu einer lebenslangen Immunität kommt.

Kann es aber sein, dass bei jüngeren Menschen mit einer guten Immunantwort der Impfschutz mehrere Jahre andauert?

Das kann gut sein. Aber wie gesagt: Wir wissen noch nicht, welche Gruppe von Geimpften wie lange geschützt ist.

Woher kommen eigentlich die Studienergebnisse zum empfohlenen Zeitpunkt von Nachimpfungen? Etwa von den Impfherstellern wie jüngst von Biontech/Pfizer, die empfehlen, schon nach 6 Monaten aufzufrischen?

Die Hersteller kennen aus den Zulassungsstudien bereits die Menschen, die sehr früh ihre Grundimmunisierung bekommen haben, und die sollte man natürlich unbedingt nachverfolgen. Gerade hier kann ich gut überwachen, wie sich die Immunantwort über die Zeit verhält und ob es Infektionen und Erkrankungen trotz Impfung gibt. Man müsste eigentlich die Hersteller dazu verpflichten, das langfristig zu tun.

Gleichzeitig schrillen da aber die Alarmglocken: Es sind ja gerade die Hersteller, die ein hohes finanzielles Interesse an der Notwendigkeit von Auffrischungsimpfungen haben.

Die FDA (die US-Arzneimittelbehörde; d. Red.) hat genau aus diesem Grund auch zurückhaltend auf die Pfizer-Meldung reagiert und gesagt, wir brauchen noch mehr Daten zur Notwendigkeit und zum notwendigen Zeitpunkt der Impfung.

Gibt es Impfstoffe, für die Sie eine schnellere notwendige Nachimpfung erwarten – zum Beispiel beim Einmalimpfstoff von Johnson & Johnson?

Ja, es gibt erste Erkenntnisse, die darauf hindeuten, dass man bei Johnson & Johnson wahrscheinlich nachimpfen muss.

Also können sich Johnson & Johnson-Geimpfte schon mal darauf einstellen, dass sie früher als andere, vielleicht schon diesen Herbst oder Winter, nachimpfen sollten?

Das kann man vermuten, ja.

Wer bekommt ihn?

Laut Beschluss der Gesundheitsministerkonferenz sollen Hochbetagte, Pflegebedürftige und andere Risikogruppen ein Angebot zur Auffrischungsimpfung bekommen. Vor allem in Altenheimen soll es wieder mobile Impfteams geben. Zudem können sich diejenigen nachimpfen lassen, die mit einem Vektorimpfstoff (AstraZeneca, Johnson & Johnson) den ersten Impfschutz erhalten haben.

Wann soll es losgehen?

Geimpft werden soll laut Beschluss ab September 2021 mit einem der mRNA-Impfstoffe und zwar frühestens 6 Monate nach der Grundimmunisierung. Wenige Tage nach dem Beschluss forderte allerdings die Weltgesundheitsorganisation WHO einen weltweiten Stopp für Auffrischungsimpfungen. Bis mindestens Ende September sollten auch bereits begonnene Nachimpfungen ausgesetzt werden. Ziel sei es, dass zuvor auch ärmere Länder mit Impfstoff versorgt werden und wenigstens 10 Prozent der Menschen in allen Ländern der Erde geimpft seien. Wie Bundesregierung und Länder mit der WHO-Forderung umgehen, ist noch unklar.

Ist bei den Auffrischungsimpfungen der Impfstoff dann beliebig mischbar oder sollte man doch wieder denselben Impfstoff verwenden?

Beliebig mischbar sicher nicht. Aber mittlerweile wissen wir, dass die Kombination – erst Vektorimpfstoff, dann mRNA-Impfstoff – sehr gut funktioniert. Insofern ist bezogen auf Johnson & Johnson auch recht einfach zu sagen, dass man die Auffrischungsimpfung mit einem mRNA-Impfstoff machen sollte.

Die Auffrischungsimpfungen sind ja vor allem auch vor dem Hintergrund der Deltavariante relevant. Sollte man dann nicht die angepassten Impfstoffe abwarten, oder dauert das eh noch zu lang?

Es gibt schon Studien mit an die Deltavariante angepassten Impfstoffen – bei den mRNA-Impfstoffen ist das ja nicht so kompliziert. Ich vermute aber, dass es noch bis in den Herbst dauern wird, bis die zur Verfügung stehen. Andererseits ist man ja immer wieder erstaunt, wie die Dinge in dieser Zeit beschleunigt werden.

Kann man von zu viel Impfung auch krank werden?

Tetanus wurde ja eine Zeit lang quasi bei jeder Gelegenheit geimpft. Man hat dann festgestellt, dass es bei sehr häufiger Impfung zu einer Anschwellung der Lymphknoten im Abflussgebiet des Impfstelle kam. Aber systemische, schwere Nebenwirkungen von Mehrfachimpfungen sind bislang nicht bekannt.

Alle derzeit verwendeten Impfstoffe haben auch seltene Nebenwirkungen wie etwa bestimmte Thrombosen oder Herzmuskelentzündungen. Steigt oder sinkt dieses Risiko mit der Mehrfachimpfung?

Das wissen wir nicht genau. Woher auch? Es gibt erst kleine Kollektive, etwa Nierentransplantierte, die bereits drittgeimpft wurden und wissenschaftlich untersucht werden. Da muss ich auch noch mal etwas Grundsätzliches sagen: Wenn wir eine Infektionserkrankung haben, die neu für den Menschen ist, wenn wir schnell viele neue Impfstoffe entwickelt haben und schnell impfen, dann können wir nicht erwarten, dass wir die gleiche Erkenntnislage haben wie bei Impfstoffen, die wir seit dreißig Jahren verwenden. Das ist eine unglaublich triviale Tatsache, die für alle Anwendungen in der Medizin gilt, aber die muss man in diesen Zeiten immer mal wiederholen. Erkenntnisse brauchen Zeit, alles andere ist Spekulation.

Wer legt denn jetzt genau fest, wer wann eine Auffrischungsimpfung bekommen sollte?

Im Prinzip sollte das die Stiko machen. Aber die Stiko kann es natürlich nur machen, wenn sie entsprechende Daten, Erkenntnisse, Erfahrungen hat, auf deren Grundlage sie eine Empfehlung aussprechen kann. Da wird sicher wieder gesagt, die böse Stiko macht das nicht. Aber wie sollen wir sonst vorgehen?

Wenn wir noch nicht wissen, wer genau gefährdet ist, und das Risiko nach Ihren Ausführungen überschaubar ist, könnte man sicherheitshalber doch einfach großzügig auffrischen.

Das ist ja das, was die Gesundheitsministerkonferenz jetzt beschlossen hat.

Ist das eine für Sie nachvollziehbare Herangehensweise, die einfach nur von Ihrer abweicht?

Ich denke, das ist eine politisch mögliche Entscheidung. Es darf halt nicht falsch etikettiert werden. Es muss klar gesagt werden, dass jetzt alle älteren Leute zur Nachimpfung kommen sollen, weil man denkt, das schadet nicht und weil man auf keinen Fall will, dass wieder Menschen im Altenheim sterben. Das ist dann keine evidenzbasierte Empfehlung, das ist ja klar, sondern eine politische Vorsorgemaßnahme.

Gilt das nicht auch für den Beschluss, alle Kinder ab 12 auch ohne die generelle Stiko-Empfehlung impfen zu wollen?

Bei den Kindern kommen noch ein paar andere Aspekte dazu. Zum Beispiel, dass in Wirklichkeit die 18- bis 59-Jährigen umfassender geimpft werden müssen, um die vierte Welle abzuflachen. Im Augenblick wird diese Diskussion auf die Kinderimpfungen verschoben. Das lenkt im Übrigen auch von der Frage ab, ob die Maßnahmen für den Kita-und Schulbereich, die von einer Vielzahl von Fachgesellschaften erarbeitet wurden, tatsächlich umgesetzt werden. Da ist es natürlich einfacher zu sagen: Lasst mal alle impfen. Da rücken auch die 9,1 Millionen Kinder unter 12 aus dem Fokus, die gar nicht geimpft werden können – also alle Grundschulkinder, alle Kitakinder. Die politische Motivation bei den Kinderimpfungen scheint mir insgesamt doch eine andere zu sein als bei den Auffrischungsimpfungen.

Wann ist von der Stiko mit einer evidenzbasierten Empfehlung zu den Nachimpfungen zu rechnen?

Das liegt auf jeden Fall in einer anderen zeitlichen Dimension als die aktualisierte Empfehlung zu den Kinderimpfungen, die sehr bald kommen wird. Sie dürfen im Übrigen nicht denken, dass wir erst eine Entscheidung fällen, wenn wir „alle“ Daten haben. Im Grunde ist bei unserer Arbeit immer die Frage: Mit wie viel fehlender Evidenz können wir leben?

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