Claudia Roth über Spießigkeit: „Ich besitze auch Gartenzwerge“
Blödsinn! Schmarrn! Quatsch! Claudia Roth wehrt sich gegen den Vorwurf, die Grünen seien Spießer und eine Verbotspartei.
taz: Frau Roth, zum Warmwerden ein paar gängige Klischees über die Grünen. Sind Sie Ökospießer, die uns das Fleischessen verbieten wollen?
Claudia Roth: Ach Blödsinn. Ein Veggieday ist doch kein Verbot, sondern ein Versuch, einen Bewusstseinswandel zu schaffen. Es geht um gesunde Ernährung und das Ende von industrieller Massentierhaltung, bei der Tiere gequält und mit Antibiotika vollgestopft werden.
Die Freiburger Grünen wollten mal ein Alkoholverbot auf öffentlichen Plätzen einführen.
Ja, haben sie dann aber nicht gemacht. Weil es bessere Argumente dagegen gab.
Plastiktütenverbot, Tempolimit auf Autobahnen. Sie sind Chefin einer Verbotspartei.
Das ist doch Schmarrn. Freie Fahrt für freie Bürger, das ist eine Verdrehung meines Begriffs von Freiheit.
Warum sagen Sie nicht einfach: Politik, die etwas will, kommt ohne Verbote nicht aus.
Das ist doch klar: Ich kämpfe zum Beispiel aus gutem Grund für ein Verbot von großkalibrigen Waffen im Schießsport und für das Verbot, Knarren zu Hause aufzubewahren. An anderer Stelle wollen wir unsinnige Verbote abschaffen. Zum Beispiel das Verbot der doppelten Staatsbürgerschaft oder das Adoptionsverbot für Lesben und Schwule.
Die ganze Welt soll grün werden, so in etwa?
Hätte ich natürlich nichts dagegen. Aber im Ernst: Die Menschen in diesem Land sind doch schon viel weiter als Schwarz-Gelb. Schauen Sie sich den Boom bei Bionahrungsmitteln oder den Erneuerbaren an.
Was ist für Sie Spießigkeit?
Für mich beschreibt Heinrich Manns Roman „Der Untertan“ am besten den deutschen Spießer. Ich denke vor allem an die Hauptfigur, den Diederich Heßling, der nach oben buckelt und nach unten tritt.
Der obrigkeitshörige Heßling, erst Stammtischlautsprecher, dann Fabrikbesitzer, macht Karriere in der wilhelminischen Gesellschaft des Kaiserreichs.
Dieser Mann ist opportunistisch, engstirnig und fürchtet jede Veränderung, es sei denn, es geht um das eigene Fortkommen. Das ist für mich spießig.
Bunt: Die 58-Jährige ist die Farbenfrohste unter den Spitzengrünen – auf jeden Fall, was ihren Kleidungsstil betrifft.
Beständig: Seit 2004 ist sie ununterbrochen eine von zwei Bundesvorsitzenden der Partei, heute zusammen mit Cem Özdemir.
Bedröppelt: Bei der Urwahl der grünen SpitzenkandidatInnen für die Bundestagwahl war sie im November abgeschlagen hinter Jürgen Trittin, Katrin Göring-Eckardt und Renate Künast nur auf dem vierten und letzten Platz gelandet.
Bayrisch: Am 22. September kandidiert Roth auf dem ersten Listenplatz der Grünen in Bayern.
Einer, der auf der Couch unterm Hirschgeweih sitzt?
Ob einer ein Geweih an der Wand hängen hat oder einen Gartenzwerg vor der Tür, ist seine Sache. Ich besitze schließlich auch Gartenzwerge. Zum Beispiel eine Gartenzwergin, die hat es sogar mal auf ein grünes Plakat geschafft.
Es geht also um eine Geisteshaltung?
Ja. Spießigkeit ist das Sicheinmauern in eine gesellschaftliche Norm, der unbedingt gefolgt werden muss.
Wie erklären Sie sich, dass den Grünen der Vorwurf der Spießigkeit gemacht wird?
Das Imperium schlägt zurück, die Spießer versuchen den Spieß herumzudrehen. Aber spießig ist das Gegenteil von Grün. Wir finden Anderssein und Abweichung normal, das ist das Entscheidende.
Anderssein und Abweichung? Wo finden Sie das denn bitte in Ihren homogenen Hochburgen Freiburg-Vauban oder im Berliner Prenzlauer Berg. Da ist der Lebensstil sehr grün.
Ja, genauso wie in Kreuzberg oder Neukölln. Grün ist bunt wie das Leben eben auch. Und Grün ist nicht rassistisch oder sonst wie ausgrenzend. Spießigkeit fängt da an, wo man eine andere Lebensform nicht gelten lässt.
So wie in Prenzlauer Berg und Vauban? Da gibt es saubere Bürgersteige, keinen Obdachlosen, keine Muslimin, die Kopftuch trägt. Da wohnt die weiße Bio-Mittelschicht, die nicht gestört werden will.
Also in Stuttgart, wo vor nicht allzu langer Zeit ein Grüner das Rathaus erobert hat, leben Menschen aus 180 Nationen, über 40 Prozent der Stuttgarter haben einen Migrationshintergrund. Es geht bei Grün nicht um geschlossene Milieus, in bestimmten Stadtvierteln treffen sich Gleichgesinnte, aber damit doch nicht Gleichförmige.
In diesen bestimmten Stadtvierteln ist das Milieu absolut homogen. Die Leute schicken ihre Kinder in bestimmte Schulen, damit sie nicht unter ein paar Türkenbengels zu leiden haben.
Wo leben Sie denn? Waren Sie schon einmal in Kreuzberg? Alle Eltern wollen ihre Kinder in möglichst gute Schulen schicken, davon gibt es aber leider gerade oft in sozial schwierigen Stadtvierteln noch viel zu wenige.
Aber wir reden nicht von den sozial schwierigen Vierteln, sondern von den Wohnorten der grünen Mittelschicht. Die bleibt am liebsten unter sich, wählt aber eine Partei, die Multikulti propagiert.
Noch einmal: Wir haben grüne Hochburgen in Berlin zum Beispiel auch in Kreuzberg oder Neukölln. Wer nach Ihrer These da „unter sich bleiben will“, wäre da sicher falsch. Und wenn die Menschen nach Prenzlauer Berg ziehen, weil es eine gute Infrastruktur für ein Leben mit Kindern gibt, ist es wirklich Unfug, ihnen zu unterstellen, sie lebten dort, weil da weniger Frauen mit Kopftuch oder bärtige Männer herumlaufen. Das hängt doch schlicht damit zusammen, dass der Ostteil der Stadt eine ganz andere Zuwanderungsgeschichte hat als die Westteile der Stadt.
Was ist denn an Claudia Roth spießig?
(Schweigt ein paar Sekunden) Das müssen Sie andere fragen. Spießigkeit widerspricht komplett meinem Selbstbild. Ich bin ja in einem bayerischen Dorf groß geworden, in Babenhausen bei Augsburg, und habe Spießigkeit immer als bedrückend erlebt. Die Frauenrollen in den Familien. Diese Enge. Diese Verklemmtheit.
Ist es spießig, seinen Feierabend lieber zu Hause auf der Couch zu verbringen, statt auszugehen?
Couch ist doch nicht spießig. Wenn das so ist, bin ich eine Oberspießerin.
Uns fällt auf: Nach Ihrer Definition ist ziemlich wenig spießig.
Ein Beispiel aus der Politik: Ich konnte mir Ende der 90er nicht vorstellen, dass die doppelte Staatsbürgerschaft so ein Problem sein könnte. Dann kam Roland Kochs Kampagne 1999 im hessischen Wahlkampf. Er schwafelte von Leitkultur, von Loyalität zu Deutschland, mit einem klar ausländerfeindlichen Unterton. So etwas ist spießig: Ich muss verdammt noch mal nicht loyal zu einem Staat sein. Der Staat muss einen Rahmen schaffen, der Vielfalt und gutes Leben für alle ermöglicht.
Wer ist spießiger: Jürgen Trittin oder Katrin Göring-Eckardt?
Keiner von beiden.
Das meinen Sie jetzt nicht ernst?
Oh doch. Weil Grüne vielfältig sind. Wir haben den katholischen Winfried Kretschmann, wir haben aber auch junge Linke wie Sina Doughan, die Sprecherin der Grünen Jugend.
Katrin Göring-Eckardt liebt Kirchentage und backt Nusskuchen, um Mitglieder für Ihre Partei zu werben. Und Sie, die ehemalige Ton-Steine-Scherben-Managerin, finden das nicht spießig?
Ich bin regelmäßiger Gast bei Kirchentagen und mag Nusskuchen. Also: nein.
Sie lügen.
So ein Quatsch. Die Tatsache, dass jemand gläubiger Christ ist, macht ihn oder sie noch nicht zum Spießer. Wenn ich zum Beispiel an Ernesto Cardenal denke oder an die Vertreter der Befreiungstheologie, das sind Aufklärer, keine Spießer. Was ganz anderes sind die Strukturen in der Kirche. Und da hat Katrin Göring-Eckardt in den letzten Jahren mit dazu beigetragen, die evangelische Kirche zu öffnen und zu modernisieren.
Und Sie können natürlich Ihre Spitzenkandidatin nicht als spießig bezeichnen.
Unsinn. Für mich ist entscheidend, dass der Grundkonsens stimmt: keine Ausgrenzung, sondern die inklusive Vorstellung einer Gesellschaft. Auch Jürgen Trittin ist kein Spießer, obwohl er jetzt die schönsten Anzüge trägt. Damit macht er was her.
„Die Grünen sind links, liberal und wertkonservativ zugleich.“ Von wem stammt dieser Satz?
Hm, von mir? Wie war das, war da links dabei?
Er stammt von Cem Özdemir.
Ja, stimmt. Wir sind eine wertebasierte Partei. Und „konservativ“ meint das Bewahrende, etwa die Natur zu schützen. Flüsse nicht an Schiffe anpassen, sondern umgekehrt.
Gilt für die Grünen von heute der Spruch: Wer für alles offen ist, ist nicht ganz dicht?
Nein. Unsere Positionen bei der sozialen Gerechtigkeit sind links. Und liberal sind wir zum Beispiel in Bürgerrechtsfragen. Wobei ich eher radikaldemokratisch sagen würde, liberal erinnert so an die FDP. Aber zugegeben, manchmal entdecke ich schon Übereinstimmungen, bei denen ich mich frage: Claudia, was ist aus dir geworden?
Welche meinen Sie?
In manchen Fragen teile ich die Position der katholischen Bischofskonferenz, zum Beispiel bei der Präimplantationstechnologie. Kinder mit Behinderung dürfen nicht selektiert werden.
Wie haben sich die Grünen in den vergangenen 30 Jahren entwickelt? Welches Wort passt, wenn nicht „spießiger geworden“?
Vielleicht sind wir reifer und erwachsener geworden. Kompromissbereiter. Geduldiger. Hoffentlich nicht: bescheidener. Die größte Veränderung für mich persönlich war, dass ich heute Auslandseinsätze mit deutschen Soldaten unter bestimmten Umständen für die letzte Möglichkeit halten kann. Das hätte ich mir vor 30 Jahren nicht vorstellen können. Aber die Grünen an sich sind nicht spießiger geworden. Was wäre der Maßstab?
Zum Beispiel die Urwahl der Spitzenkandidaten, bei der Katrin Göring-Eckardt Sie vernichtend geschlagen hat.
Die Urwahl war lebendige innerparteiliche Demokratie, kein Beleg für Spießigkeit.
Zum Beispiel die hohen Wahlergebnisse in schwäbischen Städten mit Kehrwoche.
Nichts gegen Schwaben, die haben in Baden-Württemberg und Bayern deutlich mehr zu bieten als die Kehrwoche.
Zum Beispiel die Tatsache, dass die Grünen, die mal die freie Liebe forderten, heute die Ehe für alle wollen.
Da muss ich mich auch manchmal zweimal kneifen. Aber hier geht es gerade um Emanzipation mit spießigen Mitteln, wenn Sie so wollen. Es muss gelten: Gleiche Rechte für alle, auch wenn sie altmodisch sind. Wenn ein Schwuler ganz spießig in Weiß heiraten will, warum soll ich ihm seinen Lebenstraum nehmen?
Weil die Ehe keine progressive Position ist?
Ich sage immer: Wer heiraten will, der soll das tun. Er wird schon sehen, was er davon hat.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
MLPD droht Nichtzulassung zur Wahl
Scheitert der „echte Sozialismus“ am Parteiengesetz?
Geschasste UN-Sonderberaterin
Sie weigerte sich, Israel „Genozid“ vorzuwerfen
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Vertrauensfrage von Scholz
Der AfD ist nicht zu trauen
Förderung von E-Mobilität
Habeck plant Hilfspaket mit 1.000 Euro Ladestromguthaben