Christian Semler über Tabus: Verbieten verboten
2002 schrieb Christian Semler über Tabus, die nicht in eine aufgeklärte Welt passen und trotzdem dauernd präsent sind. Am Freitag wäre Semler 75 geworden.
Was meinte Angela Merkel nur, als sie nach dem Erfurter Amoklauf sagte: „Die Schwelle, Gewalt anzuwenden, scheint zuzunehmen. Gewalt muss tabuisiert werden.“ Meinte sie statt Schwelle Welle oder statt zuzunehmen abzusinken? So unklar die Prämisse, so eindeutig die Schlussfolgerung: Ein Tabu muss her.
Welchem Politiker man sich auch zuwendet, überall die Forderung nach Tabus – oder, ganz im Gegenteil, die Forderung, entschlossen gegen Tabus vorzugehen. Otto Schily beispielsweise will ganz entschieden die Fragen der Zuwanderung und des Asyls ganz ohne Tabu (sprich elementare menschenrechtliche Erwägungen) diskutieren, wobei ihm SPD-Genosse Wiefelspütz mit der Bemerkung sekundiert, dass die Regelanfrage beim Verfassungsschutz anlässlich von Einreisen nach Deutschland kein grundsätzliches Tabu mehr darstelle. Das geht zu weit – denn welchen Nutzen könnte ein relatives Tabu noch stiften?
Das Wort Tabu, das Ethnologen vor gut hundert Jahren aus der Südsee mitbrachten, erwies sich insofern als nützlich, als es einen Sachverhalt beschrieb, für den es bisher kein Wort gegeben hatte. Tabu ist, was man nicht tun, worüber man nicht einmal reden darf. Nicht darf – im Idealfall, wenn das Tabu wirklich funktioniert, nicht einmal kann.
wäre am Freitag, 13. Dezember, 75 Jahre alt geworden. Mit diesem taz-Text aus dem Mai 2002 erinnern wir an unseren verstorbenen Kollegen und Freund. In unserem Semler-Archiv sind ab jetzt seine Texte zugänglich.
Vor dem Siegeszug des Wortes Tabu musste man zu Notbehelfen greifen. So heißt es, mitten im Zeitalter der Aufklärung, im preußischen Allgemeinen Landrecht unter Paragraf 1069: „Sodomitierey und andere dergleichen unnatürliche Sünden, welche wegen ihrer Abschäulichkeit hier nicht genannt werden können, erfordern eine gänzliche Vertilgung ihres Andenkens.“ Die Aufklärungsjuristen hatten bei ihren verdienstvollen Bemühungen übersehen, dass Sprach- und Denkverbote nicht per Gesetz verhängt werden können. Sie sind einfach Bestandteil einer Kultur und unterliegen deren Wandlungen. Sie belegen eine ganze Sphäre, die des Sakralen, der Sexualität und des Todes eben, mit dem Tabu. „Ficken“ zu sagen war noch vor einer Generation tabu, jetzt gehört es zum Sprachgebrauch auch der besseren Gesellschaft.
Tabus wirken „von innen“
Tabus herrschen sich – anders als Normen – den Mitgliedern einer Gesellschaft mit elementarer Gewalt auf. Tabus wirken „von innen“. Es war dieser Sachverhalt, der Dr. Freud dazu brachte, Tabus mit den Vorstellungen von Zwangsneurotikern zu vergleichen. Die Pointe von „Totem und Tabu“: Was wir mit besonderer Intensität begehren, tabuisieren wir. Und wenn das Begehren übermächtig wird, entlädt es sich in Zwangshandlungen.
Im heutigen Sprachgebrauch wird deshalb so gerne zum Begriff des Tabus gegriffen, weil ihm nach wie vor etwas anhaftet vom Schutz der Heiligkeit vor dem Profanen, weil es eine Idee der allgegenwärtigen Kommunikation entzieht. Die Rede vom Tabu schwächt sich zunehmend ab, sie umschreibt heute den Versuch, für Felder des Politischen eine Art negativer Konvention durchzusetzen, diese Themen aus der Diskussion zu halten. Ist das nun gut oder schlecht?
Nach dem Zweiten Weltkrieg wirkten in der deutschen Gesellschaft solche negativen Konventionen vor allem bei der Weigerung, über alles zu reden, was mit dem Mord an den europäischen Juden zusammenhing. Es gibt Philosophen wie Hermann Lübbe, die die Befolgung dieses „Tabus“ in den Fünfzigern als gänzlich unumgänglich ansahen. Das Beschweigen der Vergangenheit sei Voraussetzung für einen seelischen Heilungsprozess gewesen, der schließlich den Wiederaufstieg Deutschlands ermöglicht habe.
Die 68er sahen das bekanntlich anders, und die Wirklichkeit hat ihnen Recht gegeben. Das Verdrängte kehrte zurück. Für die demokratische Kultur in Deutschland hat sich der Tabubruch schließlich segensreich ausgewirkt.
Dumpfheit muss ans Tageslicht
Soll es heute im Verhältnis der Deutschen zu den Juden respektive zum Staat Israel Tabus geben? Hier sollten wir differenzieren. Gänzlich unannehmbar scheinen mir Tabubrüche der Art, wie sie im Jüdischen Historischen Museum in New York zu sehen waren: Fotos, auf denen KZ-Opfer als Material für Collagen dienen, auf denen sich der Künstler selbst inszeniert. Diese Art von Tabubrüchen verhöhnt die Opfer, ohne zur Aufklärung über die Verbrechen beizutragen. Sie nimmt den Toten ihre Würde.
Ganz anders verhält es sich bei antijüdischen Klischees, die in Deutschland viel verbreiteter sind, als wir gemeinhin annehmen. Sie zu tabuisieren ist falsch, denn nur, wenn sie offen geäußert werden können, ist Aufklärung über den Antisemitismus möglich. Falsch war es deshalb, einen Bürgermeister zur Unperson zu machen, der meinte, das Defizit im städtischen Haushalt sei nur zu schließen, wenn man „ein paar reiche Juden erschlage“. Dumpfheit muss ans Tageslicht, sonst könnten wir noch dem Trugschluss erliegen, in einem Land wie Polen, wo es noch judenfeindliche Redewendungen und Sprichwörter zuhauf gibt, sei der Antisemitismus endemisch, bei uns, wo sich die Witze hinter vorgehaltener Hand zugeraunt werden, sei alles in Ordnung.
Soll man sich mit Norman Finkelsteins Behauptungen, jüdische Weltorganisationen hätten KZ-Opfern Gelder vorenthalten, auseinander setzen? Oder soll man das Thema tabuisieren aus Angst vor Beifall aus der rechtsradikalen Ecke? Natürlich muss man sich mit ihm beschäftigen, sonst wuchern sie als Fama weiter. Der Historiker Ulrich Herbert hat dies in vorbildlicher Weise getan, Richtiges von Falschem getrennt und damit ein Stück Aufklärungsarbeit geleistet.
„Holocaust“ ist ein sprachlicher Euphemismus, ein Vermeidungswort, das es uns erlaubt, vom Mord an den europäischen Juden zu sprechen, ohne ihn beim Namen zu nennen. Er ist einfach „die Katastrophe“, die über uns hereingebrochen ist. Statt über den „Holocaust“ zu philosophieren, sollten wir uns dem mühseligen Geschäft widmen, über das genaue Warum und Wie des Mordes an den Juden historische Fakten ans Licht zu fördern. Dazu gehören – als elementare Voraussetzung – der historische Vergleich und die historische Einordnung.
Es führt gänzlich in die Irre, wenn die Einzigartigkeit des Mords an den Juden postuliert, der Diskussion entzogen, zum Tabu erklärt wird. Heraus kommt nur die Konkurrenz der Opfer und der Run auf die knappe Ware Aufmerksamkeit. Deshalb: Vorsicht bei dem Wort Tabu!
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Christian Lindner
Die libertären Posterboys
Außenministerin zu Besuch in China
Auf unmöglicher Mission in Peking
Olaf Scholz’ erfolglose Ukrainepolitik
Friedenskanzler? Wäre schön gewesen!
Rücktrittsforderungen gegen Lindner
Der FDP-Chef wünscht sich Disruption
Neuer Generalsekretär
Stures Weiter-so bei der FDP
Zuschuss zum Führerschein?
Wenn Freiheit vier Räder braucht