Chinas Wirtschaft strauchelt: Die fetten Jahre sind vorbei
Dem Reich der Mitte droht nach vier Dekaden anhaltenden Wirtschaftswachstums eine ökonomische Flaute. Die Krise ist vor allem hausgemacht.
Wer dieser Tage Xi Jinpings Reden lauscht, muss manchmal an seinem Hörvermögen zweifeln. Zu radikal hat sich die offizielle Parteipropaganda in den vergangenen Jahren gewandelt. War die Führung in Peking zuvor geradezu besessen von der Idee, das jährliche Wirtschaftswachstum in China so hoch wie möglich zu halten, tut der amtierende Staatschef das Streben nach kurzfristigem Wohlstandsgewinnen als reine Dekadenz ab. „Wir müssen historische Geduld wahren“, sagte der 70-Jährige in einer am Mittwoch veröffentlichten Ansprache, die sich wie eine Durchhalteparole an die Bevölkerung liest.
China befindet sich derzeit vor der größten ökonomischen Herausforderung der vergangenen Dekaden: Die Volkswirtschaft kriselt, fast sämtliche der wichtigen Indikatoren fallen geradezu alarmierend aus. Spätestens diesen Sommer lässt sich der Ernst der Lage nicht mehr übertünchen: Im zweiten Quartal ist das chinesische Bruttoinlandsprodukt im Vergleich zum – durch Lockdowns und „Null-Covid“-Politik geprägten – Vorjahreszeitraum nur um 0,8 Prozent gestiegen.
Die vage Hoffnung, dass das Land nach Lockerung der Pandemie-Maßnahmen im vergangenen Dezember rasch wieder zur gewohnten Wachstumsgeschwindigkeit zurückkehren würde, hatte sich nicht erfüllt: Ein erster Erholungseffekt dauerte nicht einmal zwei Monate, dann verpuffte er.
Fast sämtliche ökonomischen Gradmesser liegen hinter den Erwartungen zurück: Die monatlichen Neukredite sind so niedrig wie seit einem Jahrzehnt nicht mehr, die ausländischen Direktinvestitionen befinden sich auf dem tiefsten Stand seit den 90ern. Selbst die Exporte – eine der zuverlässigsten Wirtschaftssäulen der Volksrepublik – sind im Juli aufgrund der schwachen globalen Nachfrage um nahezu 15 Prozent gefallen.
Xi Jinping schuf ein repressives Gesellschaftsklima
Trotz Coronapandemie und Weltwirtschaftslage sind es allerdings zumeist selbst verschuldete Gründe, warum die chinesische Wirtschaft hinter ihrem Potenzial zurückbleibt. Einer der größten Vorwürfe, der freilich nur mehr von ausländischen Geschäftsleuten offen geäußert werden kann, richtet sich direkt gegen Xi Jinping: Nach Jahrzehnten der pragmatischen Reformpolitik setzt Xi wieder verstärkt auf ideologische Kontrolle.
In die meisten Privatfirmen, auch internationale Konzerne, sind Parteizellen der KP eingezogen, deren Mitglieder in wöchentlichen Sitzungen die Lehre ihres Staatschefs studieren oder Selbstkritik üben. Die meisten öffentlichen Aufträge und günstigen Kredite gehen nur an die bürokratischen Staatsunternehmen. Und darüber hinaus hat Xi ein repressives Gesellschaftsklima geschaffen, in dem unternehmerische Innovation und Kreativität zwar weiter existieren, jedoch gegen immer stärkere Widerstände.
So steht die Jugend des Landes zunehmend ohne Perspektive da. Im Frühjahr hatte die Arbeitslosigkeit der unter 24-Jährigen allein in den Städten erstmals die historische 20-Prozent-Marke durchbrochen. Im Juni stieg der Wert noch mal deutlich auf 21,3 Prozent an. Im August schließlich strömten allein über 11 Millionen Universitätsabsolventen auf den überhitzten Arbeitsmarkt. Wie viele von ihnen bislang ein festes Einkommen gefunden haben, lässt sich nicht mehr seriös beantworten: Das nationale Statistikamt hat im August angekündigt, die Veröffentlichung der Arbeitslosenzahlen bis auf Weiteres zu „suspendieren“, um die „Methodik zu optimieren“.
Chinesisches System ist weit vom Kollaps entfernt
Dabei sind die Risse im System nicht mehr zu übersehen, etwa in den unzähligen Bauruinen, die sich vor allem in den Außenbezirken der Provinzstädte finden lassen. Die anhaltende Immobilienkrise führt dazu, dass derzeit hunderttausend chinesische Familien um die Errichtung ihrer bereits gekauften Apartments bangen müssen.
Trotz aller Negativschlagzeilen ist das chinesische System weit von einem Kollaps entfernt. Aufgrund der schieren Größe des Marktes wird die Volksrepublik zudem auch in Zukunft eine global wichtige Rolle einnehmen. Das Tempo jedoch, mit dem sie sich entwickelt, flacht deutlich schneller ab als zuvor prognostiziert: Die Wirtschaftsberatung Capital Economics mit Sitz in London schätzt, dass sich das chinesische Wachstum bis 2030 bei rund 2 Prozent einpendeln dürfte.
Leser*innenkommentare
tomás zerolo
@ZANGLER
Die "Wirtschaft" scheint wohl noch die einzige "Wissenschaft" [1] zu sein, die an das Perpetuum Mobile glaubt.
Wachstum hat fertig, Leute. Das hat die USA in den 70ern, EU ein Tick später erlebt. Wir haben noch eine Phase der Wachstumssimulation gehabt, die zum grossen Teil aus spekulativem Wachstum bestand (wovon nur die Reichen etwas haben).
China erlebt das nun im Zeitraffer. Schon präpandemisch waren sie tief im spekulativen Wachstum drin, ein nicht geringer Teil ihrer sagenhaften sechs Prozent waren Preissteigerungen von Baugrundstück. Das kann man nicht essen.
Wachstum hat fertig, auch wenn die betrügerischen Schamane der Wirtschaft immer wieder neue magische Gegenstände erfinden [2].
Wir müssen einen anderen Weg finden, uns hier zu arrangieren. Manche Reiche werden wir schreiend und zappelnd da hintragen müssen.
[1] Abgesehen von einige rühmlichen Ausnahmen zucke ich als Naturwissenschaftler bei so etwas zusammen.
[2] scholar.harvard.ed...cular-stagnation-0
Dietmar Rauter
Ich kann mich dem Urteil 'hausgemacht' nicht anschliessen: Wo bitte soll denn das Wachstum herkommen, wenn es keine 'kunden' mehr für die Erzeugnisse des Marktes mehr gibt? Hatten doch die Baugesellschaften fest damit gerechnet, dass ihre Wohnungen in kürzester Zeit genügend Abnehmer finden, weil in Zeiten einer guten Beschäftigungslage notfalls auch Kredite dabei helfen, sich die Wohnungen auch leisten zu können (wer hat denn diese jetzt leerstehenden Objekte denn gebaut, doch nicht die Spekulanten?) . Wir haben es hier mit einer Situation zu tun, in der aufgrund mangelnder Beschäftigungsmöglichkeiten im Binnenmarkt die Nachfrage zurückgeht und der Grund dafür liegt wiederum, weil es weltweit das gleiche Problem gibt: Wenn Arbeitsplätze aus Europa nach China zugunsten höherer Produktivität (Automation) und billiger manpower 'verlegt' werden, wer soll denn z.B. in Europa noch die Erzeugnisse des chinesischen Marktes kaufen können? Durch die Globalisierung, ausgelöst durch die großen Konzerne, die zuerst leiden, wenn die Überproduktion keinen Profit mehr abwirft, entsteht eine gigantische Wachstumsdelle, die auf neuester Technologie basierenden, teuer finanzierten Produktionsanlagen werfen keine Profite mehr ab und bringen das ganze System -weltweit!- ins Straucheln. Verschont bleiben nur lokal organisierte Märkte, die von den Heuschrecken aufgrund mangelnder Erfolgsaussichten oder entsprechender staatlicher Abwehr nicht heimgesucht wurden. Auch wenn die chinesischen Regierungen immer wieder auch versuchten, die Investoren aus dem 'Westen' in den Griff zu bekommen, haben sie doch ihr 'Wirtschaftswunder' doch den Eindringlingen zu verdanken, müssen sie jetzt erkennen, dass sie ihre Unschuld an der Stelle verloren, als sie auch in ihrem Binnenarbeitsmarkt zu sehr von den Erlösen aus einem Exportgeschäft abhängig geworden sind. Jetzt gilt es, den Einheimischen eine Perspektive zu geben, ein 'Recht auf Arbeit' als oberste Priorität zur Stärkung eines Binnenmarktes...
Zangler
@Dietmar Rauter Dass Export als einziges Wirtschaftsmodell nicht nachhaltig funktioniert, davon kann man auch in Deutschland ein Lied singen. Allerdings ist eine ideologische Geldverteilung aus Staatshand auch ein riesiges Problem, egal ob es um Kader der KPCh geht oder um die Aufsichtsratsposten deutscher Automobilunternehmen. Will sagen: Deutschlands Probleme sind gebauso hausgemacht, durch konservative Ideologie.
Okti
@Dietmar Rauter Hausgemacht weil z.B. der Bausektor von Korruption und Betrug zerfressen ist. Natürlich spielt in einer globalisierten, kapitalistischen Wirtschaft die internationale Nachfrage auch eine Rolle, aber die lokalen Strukturen, welche den Bau unzähliger Wohnungen durch ungedeckte Kredite für ein gutes Rating bei den höheren Parteikadern angestoßen haben, ist viel relevanter.
Und ein "Recht auf Arbeit" in einer zusehends automatisierten Wirtschaft entbehrt jeglicher Logik. Die hausgemachten Probleme des Landes beschleunigen einfach nur was in jeder kapitalistischen Wirtschaft passiert: eine Abflachung und dann ein Fall des Wirtschaftswachstums. Ewiges Wachstum gibt es nicht und irgendwann erreichen Staaten eine Sättigung des möglichen Wohlstands (für die wenigen die fast alles besitzen).
Dietmar Rauter
@Okti Das Recht auf Arbeit funktioniert im Kapitalismus ja auch nicht, wo das Recht des Unternehmers auf dem Einsparen von manpower durch die private Verfügbarkeit von kreativen Ressourcen und Rohstoffen gekennzeichnet ist. Arbeit bedeutet Teilhabe, auch wenn zur unmittelbaren Bedürfnisbefriedigung in Verbindung mit GERECHTER Verteilung immer weniger menschlicher Aufwand erforderlich ist, wenn gleichzeitig nachhaltiger und Ressourcen-schonender gewirtschaftet wird.