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Cannes-Sieger „Parasite“ im KinoGrausam gut

Die pechschwarze Gesellschaftssatire „Parasite“ brachte Bong Joon-ho die Goldene Palme. Das heftigste Kinoereignis des Jahres ist eine Falle.

„Parasite“ ist spritzig, scharf, lustig – das Beste, was das Kino zu bieten hat Foto: Koch Film via dpa

Die Sensationen häufen sich. Vergangene Woche erst hatte mit „Joker“, über die Genese des Superschurken, einer der am dringlichsten erwarteten Filme des Jahres hierzulande seinen Kinostart. Er war zugleich der Siegerfilm bei den Filmfestspielen von Venedig. Jetzt folgt mit „Parasite“ ein weiterer Gewinner, nämlich der Goldenen Palme in Cannes. Zwar kann dieser Film keine Comicfigur und auch keinen Hollywoodstar als Aushängeschild bieten, doch ist er in mehrfacher Hinsicht die eigentliche Sensation.

Dabei haben „Joker“ des US-Amerikaners Todd Phillips und „Parasite“ des südkoreanischen Filmemachers Bong Joon-ho auf den ersten Blick einiges gemeinsam. In beiden Filmen sind die Hauptfiguren sozial Benachteiligte. Diese setzen sich zudem in beiden Filmen irgendwann zur Wehr. Und in beiden Filmen geht es mitunter recht gewalttätig zu.

Doch damit sind die Übereinstimmungen im Grunde schon erschöpft. Denn wo „Joker“ in seiner Finsterkeit glatt vergessen machen kann, dass sein Regisseur für Komödien wie die „Hangover“-Trilogie verantwortlich zeichnet, integriert Bong Joon-ho verschiedenste Tonlagen von beißendem Witz bis zu handfestem Schrecken.

Da der Regisseur ausdrücklich darum gebeten hat, von allzu detaillierter Preisgabe der Handlung abzusehen, soll es an dieser Stelle bei knappen Andeutungen bleiben – und der Empfehlung, sich selbst einen Eindruck zu verschaffen, wie Bong Joon-ho seine Gesellschaftsanalyse ausbuchstabiert.

Der Film

„Parasite“. Regie: Bong Joon-ho.Mit Song Kang-ho, Lee Sun-kyun u. a. Südkorea 2019, 131 Min.

Denn im Unterschied zu „Joker“ bietet „Parasite“ durchgehend scharfe Sozialkritik. Und das in einem Film, der sich dem genrefixierenden Zugriff beständig entzieht, weil er, wie bei einer Häutung, nach und nach seinen Charakter wandelt. Das tut er in einer präzise getakteten Weise, die von Anfang bis Ende fesselt und sich nicht davor schämt, sein Publikum zu unterhalten.

Ohne WLAN im Souterrain

Gleich das erste Bild gibt den Rahmen vor. Zu sehen ist der Blick durch ein Souterrainfenster, draußen fahren Autos vorbei, eine Wäschespinne mit Socken schränkt die Sicht auf die Straße ein. Dann rutscht die Kamera ein kleines Stück herunter, wo ein junger Mann an seinem Smartphone sitzt. Und schlechte Nachrichten verkündet: „Kein WLAN!“ Adressat der Botschaft ist seine Familie, mit der er dort haust. Die Nachbarin über ihnen, so seine Auskunft, hat neuerdings ein Passwort, das ihnen, den Kims, den Zugang zur vernetzten Kommunikation verwehrt. Die Kims selbst, das suggeriert ein näherer, von der Kamera gewährter Blick in das Kellerloch der vierköpfigen Familie, können sich keinen eigenen Internetzugang leisten.

Die verschlossene Welt der Familie Park kündigt sich schon an der Grundstücksgrenze mit der Kamera am Tor an

Geld verdient man, nach einigen beruflichen Rückschlägen, notgedrungen mit Niedriglohnjobs wie Pizzakartons falten. Bis der Sohn Ki-woo (Choi Woo-shik) unerwartet Besuch von einem Studienfreund erhält. Dieser kündigt an, ein Jahr zum Studium in die USA zu gehen, und bittet Ki-woo, ihn während seiner Abwesenheit als Englischnachhilfelehrer im Haus einer reichen Familie zu vertreten. Unterricht erhält die Tochter des Hauses. Das Angebot kommt dabei weniger aus Hilfsbereitschaft denn aus Kalkül: Ki-woo wurde vom Freund ausgesucht, weil dieser als ausgemachter „Loser“ die geringste Gefahr darstellt, ihm die Nachhilfeschülerin auszuspannen.

Examen kann man fälschen

Bong Joon-ho präsentiert die Familie Kim zu Beginn als von Armut gezeichnet, jedoch keineswegs als unbedarft. Ki-woo etwa nutzt seine Chance nicht bloß, um sich so gut wie möglich zu verkaufen. Er lässt sich von seiner technisch versierten Schwester Ki-jung (Park So-dam) sogar die erforderlichen Examen fälschen. Zusammen mit der Empfehlung durch den Freund öffnet ihm dies sämtliche Türen zur ihm andernfalls verschlossenen Welt der Familie Park. Die sich schon mit dem kamerabewehrten Tor an der Grundstücksgrenze ankündigt.

Den Statusunterschied zwischen beiden Familien inszeniert Bong Joon-ho denn auch optisch überdeutlich mit dem parodistisch herausgestellten Gegensatz zwischen den Wohnungen. Der Kontrast des imposanten Wohnsitzes der Parks zur kakerlakenbevölkerten Enge bei den Kims könnte kaum schreiender sein. Als Ki-woo sich das erste Mal auf den Weg zu den Parks macht, um seine Probestunde anzutreten, folgt ihm die Kamera eine breite, nüchterne Betontreppe hinauf, gleitet über eine penibel gepflegten Garten, der von zahllosen automatischen Rasensprengern bewässert wird, um schließlich dahinter die Glasfensterfront der in elegant-einschüchterndem Beton gehaltenen Villa zu bestaunen.

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Parasite

Ein Frühstückstisch. Darauf stehen Trauben und Saft und ein Teller mit einer Scheibe Toastbrot. Es ist mit roten Klecksen übersäht.
Ein Frühstückstisch. Darauf stehen Trauben und Saft und ein Teller mit einer Scheibe Toastbrot. Es ist mit roten Klecksen übersäht.

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Bong Joon-ho hat diese Villa nach eigenen Angaben extra für den Film bauen lassen. Auch das offen gestaltete Erdgeschoss mit fließendem Übergang zwischen Küche und Wohnzimmer ist nach seinen Vorstellungen entworfen. Es ist eine Architektur des dezent distinguierten, damit zugleich umso machtvoller zur Schau gestellten Wohlstands.

Beide Wohnungen wirken in ihrer offenkundigen Gegensätzlichkeit fast wie eigenständige Protagonisten. Passend dazu hat „Parasite“ keinen eigentlichen Hauptdarsteller, sondern vielmehr ein grandios aufeinander abgestimmtes Ensemble. In dem sich im Übrigen keine Identifikationsfiguren finden. Wo die Kims einheitlich als so bedürftig wie durchtrieben auftreten, können die Parks in ihrer distanzierten Freundlichkeit und dem Bemühen um korrektes Verhalten im Ernstfall nicht aus ihrer Haut und stören sich schon mal am Geruch anderer.

Die Parks sind ihrerseits hoffnungslos naiv im Vertrauen auf Empfehlungen aller Art. Was die Kims schon bald für ihre Zwecke auszunutzen wissen: Als Ki-woo erfährt, dass der kleine Sohn der Parks verhaltensauffällig ist und eine Kunsttherapeutin benötigt, fällt ihm sogleich eine entfernte Bekannte ein, die Spezialistin auf dem Gebiet ist. Tatsächlich handelt es sich um seine Schwester Ki-jung.

Das aggressiv manipulative Marketing der Kims, mit dem sie die Parks einwickeln, wirkt wie ein Seitenhieb auf den nach wie vor wachsenden Coaching- und Beratungsmarkt. Was lediglich ein Beispiel ist für Bong Joon-hos über die Grenzen der koreanischen Gesellschaft hinaus zielende Kritik an den herrschenden Bedingungen, unter denen Menschen wie die Kims und die Parks zu dem werden, was sie sind.

Bong Joon-ho hatte 2013 mit „Snowpiercer“ eine stark allegorische, doch nicht weniger beißende Gesellschaftskritik verfolgt. Darin raste ein abgeriegelter Zug durch eine unbewohnbar gewordene vereiste Welt, die einzelnen sozialen Schichten von vorn nach hinten in verschiedene Waggons eingeteilt. „Parasite“ hingegen ist vertikal ausgerichtet, mit der Villa hoch oben auf den Hügeln Seouls und der Wohnung der Kims irgendwo „da unten“.

Dass es in dieser Geschichte am Ende keine Gewinner gibt, ist hoffentlich nicht zu viel des Geheimnisverrats. Bong Joon-ho will definitiv nicht versöhnen. Lösungen hat er auch keine – die von einem Film zu erwarten, wäre ohnehin zu viel verlangt. Doch er hat einen unerbittlichen Blick. In dem man sich irgendwann selbst wiedererkennen kann. Im günstigsten Fall ­lachend.

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1 Kommentar

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  • Zitat: „Die Sensationen häufen sich.“

    Man muss wohl entweder ein gelangweilter Filmkritiker oder ein tumber Ignorant sein, um angesichts der Prämierung zweier Filme, deren jeweilige Hauptfiguren „sozial Benachteiligte“ sind, die sich „irgendwann zur Wehr [setzen]“ und in denen es deswegen „mitunter recht gewalttätig zu[geht]“, von einer Häufung der Sensationen zu sprechen.

    Eine Sensation „steht für ein auffälliges, aufsehenerregendes oder außergewöhnliches Ereignis“, weiß das Lexikon. Was also sensationell sein sollte daran, dass hochglanzverpackte Gruselgeschichten mit Macht ins Bewusstsein unkritischer Konsumentenmassen gedrückt werden, auf dass sie die Kassen geldgeiler Filmemacher und -verleiher füllen, hätte ich gerne erklärt. Schon die Brüder Grimm haben ihren Lebensunterhalt seinerzeit auf diese Art gesichert.

    Wenn überhaupt, waren die damals sensationell. Denn „scharfe Sozialkritik“ findet sich auch in Rotkäppchen und Co. Und auch die Grimmschen Märchen passen sich an. Dass sie „wie in einer Häutung, nach und nach [ihr]en Charakter wandel[n]“, kann man grade wieder im deutschen Privatfernsehen erleben (Malefiz). Davon, dass es bei den Grimms „mitunter recht gewalttätig zu[geht]“, muss ich ja wohl nicht extra reden.

    Je nun. Eine Sensation „wird erst durch eine entsprechend verbreitete Wahrnehmung zur Sensation“, hat mir Wikipedia verraten. Sie muss „von verschiedenen Medien aufgegriffen, kommuniziert und in den Fokus der allgemeinen Aufmerksamkeit gerückt“ werden. Und da, denke ich, liegt die Herausforderung für Leute wie Tim Caspar Boehme: Sie setzen all ihren Ehrgeiz daran, den Leuten etwas, was sie seit Kindertagen kennen (und nicht selten schon länger als emotionale, intellektuelle und moralische Zumutung empfinden), als neuesten heißen Scheiß zu verkaufen, den sie unbedingt konsumiert haben müssen.

    Okay, Leute. Viel Spaß im Kino. Verschafft euch „selbst einen Eindruck“. Ich habe was besseres vor, denke ich. Sensationen dieser Art langweilen mich.