Bundesweiter Warntag: „Wir wollen keine Angst machen“
Der Präsident des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe, Ralph Tiesler, über Krisenvorsorge und die Lehren aus der Ahrtalflut.
taz: Herr Tiesler, am 14. September ist wieder Warntag, an dem bundesweit Sirenen oder Handyalarmierungen erprobt werden. Zuletzt in Nürnberg hat das in der Praxis nicht geklappt: Trotz schwerer Überschwemmungen wurde dort kein Cell Broadcast ausgelöst, mit dem Warnnachrichten auf Handys verschickt werden. Schlecht gelaufen?
Ralph Tiesler: Warum Cell Broadcast nicht durch die zuständigen Stellen ausgelöst wurde, ist uns nicht bekannt. Am System lag es jedenfalls nicht. Ich kann nur spekulieren, dass es einsatztaktische Gründe dafür gab.
Alarmiert wurde über Apps wie Nina oder Katwarn. Mit Cell Broadcast hätte man aber auch Menschen erreichen können, die diese Apps nicht haben.
Für die Warnung sind in Deutschland unterschiedliche Stellen zuständig: Der Bund für den Bereich des Zivilschutzes und die Länder und Kommunen für den Katastrophenschutz und die allgemeine Gefahrenabwehr. Und sie haben es selber in der Hand, welche Warnmittel sie nutzen wollen. Unter gewissen Umständen sprechen auch Gründe dafür, auf ein Mittel zu verzichten und auf andere zu setzen. Unser Ziel ist es, im Gespräch mit den Ländern zu einer bundesweit optimalen und idealerweise relativ einheitlichen Nutzung von Cell Broadcast zu kommen.
Ralph Tiesler
ist seit Juni 2022 Präsident des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe. Der 63-Jährige ist studierter Jurist.
Wie optimistisch blicken Sie denn auf den bundesweiten Warntag? Vor drei Jahren war der ja ein ziemlicher Misserfolg, viele Menschen wurden gar nicht alarmiert. Im vergangenen Jahr lief es besser.
Der letzte Warntag war für uns ein großer Erfolg, unter anderem weil dort erstmals Cell Broadcast eingesetzt wurde. Mit allen Warnmitteln insgesamt haben wir über 90 Prozent der Menschen erreicht. Das ist ein profundes Zeichen, dass wir auf dem richtigen Weg sind.
Was wäre denn diesmal eine Erfolgsquote?
Ich wäre sehr froh, wenn wir wieder die 90 Prozent erreichen. Unser Ziel ist, dass wir mit allen Warnmitteln 100 Prozent der Menschen erreichen. Dies ist natürlich ein theoretisches Ziel, aber wir werden weiter daran arbeiten. Wichtig ist uns etwa, die Erreichbarkeit von Menschen mit Beeinträchtigungen kontinuierlich weiter zu erhöhen. Es ist notwendig, unser System regelmäßig einem Stresstest zu unterziehen. Alle technischen Möglichkeiten sollen erprobt werden, um zu sehen, ob es noch Herausforderungen gibt. Der zweite Zweck ist zu sensibilisieren: Die Menschen müssen wissen, was sie im Ernstfall zu tun haben.
Sie sind seit einem guten Jahr Präsident des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK), setzen sich seitdem für mehr Bewusstsein in der Bevölkerung für den Katastrophenschutz ein, angesichts von Unwetterlagen und des Ukrainekriegs, ist das Bewusstsein inzwischen da?
Die letzten Krisen, die wir hatten – Corona, die Flut im Ahrtal oder der Krieg in der Ukraine – haben dazu beigetragen, dass die Menschen sich mit dem Thema Katastrophen oder Krisen mehr auseinandersetzen. Deshalb glaube ich, dass das Bewusstsein in der Bevölkerung gestärkt ist. Beim Krieg in der Ukraine können wir das etwa anhand der Anfragen an unseren Bürgerservice ablesen. Viele Menschen fragten sich nach Kriegsausbruch, was sie nun tun müssten. Welche Gefahren konkret drohen? Wo es Schutzräume gibt? Welche Maßnahmen man im Ernstfall ergreifen müsse? Welche Hausmittel bei Gefahren helfen?
Wobei der Krieg ja nicht hierzulande tobt.
Uns geht es um Naturkatastrophen und andere Krisen, die uns hier im Alltag treffen können. Wir erklären auch, dass alles, was wir zur Vorbereitung machen und raten, nicht bedeutet, dass gleich morgen eine Krise eintreten wird. Es geht darum, auf Szenarien vorbereitet zu sein und den Verlauf am Ende nicht dem Zufall zu überlassen. Wir wollen den Menschen keine Angst machen, sondern ihnen die Angst ein Stück weit nehmen.
Gelingt das?
Wir haben gelernt, dass wir die Menschen noch viel stärker abholen müssen, damit sie sich Notlagen nicht ohnmächtig ausgesetzt fühlen, sondern ein Stück weit selbst vorsorgen können. Das stärkt die Resilienz einer Gesellschaft, aber vor allem hilft es auch bei der Bewältigung von solch katastrophalen Ereignissen. Wo Lagen entstehen, in denen Einsatzkräfte an ihre Grenzen kommen, zählt jede helfende Hand und Solidarität. Dieses Bewusstsein wollen wir natürlich noch weiter stärken, mit Kampagnen wie dem bundesweiten Bevölkerungsschutztag zuletzt in Potsdam oder weiteren Programmen.
Ist Deutschland gut vorbereitet auf den Ernstfall?
Ich glaube schon, dass wir grundsätzlich gut vorbereitet sind. Wir haben eine lange Erfahrung, was Krisenbewältigung angeht. Anderthalb Millionen Ehrenamtliche engagieren sich in Deutschland in Hilfsorganisationen. Auch materiell gesehen sind wir gut aufgestellt. Aber die jüngsten Krisen haben eben auch gezeigt, dass es durchaus Nachbesserungsbedarf gibt.
Am 14. September
sollen ab 11 Uhr wieder in ganz Deutschland die Sirenen heulen und die Smartphones bimmeln. Der gemeinsam von Bund, Ländern und Kommunen vorbereitete Warntag dient der Erprobung der Warnsysteme und der Sensibilisierung in der Bevölkerung. Er soll an jedem zweiten Donnerstag im September stattfinden.
Unterschiedliche Mittel
Länder und Kommunen legen selbst fest, auf welchen Wegen sie ihre Bevölkerung vor Gefahren warnen. Deswegen kann die Wahl der Alarminstrumente am Warntag regional sehr unterschiedlich sein.
Welchen?
Neben breit funktionierenden Warnsystemen braucht es eine bessere Zusammenarbeit aller Akteure, um möglichst schnell zu guten Entscheidungen zu kommen, welche Maßnahmen wir im Krisenfall ergreifen. Darauf haben sich Bund und Länder in den letzten zwei Jahren besonders fokussiert und etwa das Gemeinsame Kompetenzzentrum Bevölkerungsschutz von Bund und Ländern als neue Kooperationsplattform geschaffen, das beim BBK angesiedelt ist.
Was hat das Zentrum bisher erreicht?
Die Vertretungen aus Bund und Ländern sitzen vor Ort an einem Tisch zusammen, erstellen regelmäßig Lagebilder und arbeiten sehr intensiv an Konzepten, um den Informationsaustausch und die Kooperation auch im Krisenfall zu verbessern. Aktuell wird zudem ein bundesweites Ressourcenregister abgestimmt, um Spezialressourcen besser koordinieren zu können. So arbeiten alle Partner auch schon im Vorfeld miteinander und sind schneller handlungsfähig.
Sie wohnen nahe des Ahrtals, wo es 2021 die Flutkatastrophe mit 130 Toten gab. Warnungen an die Bevölkerung kamen damals zu spät. Was würde diesmal anders laufen?
Ich denke, so etwas würde nicht noch einmal passieren. Allein, weil heute die Sensibilität eine völlig andere ist. Auch strukturell wurde reagiert. Rheinland-Pfalz hat seine Rechtsgrundlagen für den Katastrophenfall geändert, um klarere Verantwortlichkeiten zu schaffen. Auch bei der Warnung wurde technisch nachgerüstet: Alle Kommunen dort haben die vergangenen zwei Jahre Krisenmanagement geübt. Und das geschieht auch anderswo: Man rennt uns an unserer Akademie die Türen ein, was den Ausbildungsbedarf für Krisen- und Verwaltungsstäbe angeht. Alle haben gesehen, dass es an der Stelle wirklich etwas zu tun gibt.
Ihr Amt wirbt dafür, dass sich jeder Vorräte anlegt, die für zehn Tage reichen: Wasser, Lebensmittel, Kerzen. Passiert das?
Wir haben natürlich keinen Einblick, was jeder Einzelne tatsächlich anlegt. Aber aufgrund der vielen Nachfragen bei uns merken wir, dass offensichtlich heute ein größeres Interesse dafür besteht und die Menschen sich besser vorbereiten.
Haben Sie einen Vorrat angelegt?
Natürlich. Ich habe das schon vor einer ganzen Weile und aus eigener Überzeugung getan. Unser Zwei-Personen-Haushalt könnte damit zehn bis 14 Tage überstehen. Aber bei unserer Liste geht es nicht darum, dass man sich das eins zu eins besorgt – sondern um eine angemessene Bevorratung, die individuell unterschiedlich sein kann. Wenn das erstmal nur für ein paar Tage ist, hat man schon viel getan.
Es gibt aber auch Menschen, die kein Geld haben, sich Vorräte anzulegen.
Das ist uns bewusst. Und es gibt auch diejenigen, die im Katastrophenfall alles verlieren. Deshalb ist es wichtig, dass viele derjenigen, die es können, Vorräte anlegen, um im Zweifel anderen aushelfen zu können. Und zum anderen steht ja auch noch das staatliche Hilfeleistungssystem bereit. Die Bevorratung kann aber dieses System entlasten.
Wie gehen Sie mit Preppern um, die Vorräte horten, aber eigentlich den politischen Umsturz wollen?
Nicht jeder Prepper ist ein Problem. Aber es hat da seine Grenze, wo mit dem Bevorraten politische Ziele verfolgt werden, die unseren verfassungsrechtlichen Grundsätzen widersprechen.
Auch Bundesinnenministerin Nancy Faeser hat nach Ausbruch des Ukrainekriegs einen Neustart im Bevölkerungsschutz angekündigt. Sehen Sie den eingelöst?
Wir setzen das Programm gemeinsam erfolgreich um, etwa mit der Verbesserung unserer Warninfrastruktur einschließlich des begonnenen Wiederaufbaus des Sirenennetzes, dem Gemeinsamen Kompetenzzentrum oder dem neuen Bevölkerungsschutztag. Am Ende geht es darum, alle Akteure im Krisenmanagement mitzubedenken – die Bürger, Industrie, Politik, Hilfsorganisationen.
Die Länder und Kommunen fordern mehr Einsatz und Gelder vom Bund für den Katastrophenschutz. Der Bund sieht die Länder in der Verantwortung. Wer hat recht?
Zuständig für den Katastrophenschutz sind die Bundesländer, und der Bund ergänzt die Ausstattung, soweit es für den Zivilschutz erforderlich ist. Eine Verbesserung des Bevölkerungsschutzes kann auch nur mit gemeinsamen Anstrengungen bei Bund und Ländern gelingen. Wenn es um konkrete Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern geht, sehe ich bei dem Thema keine Probleme. Und ich glaube auch, dass die föderale Aufstellung in Deutschland beim Krisenmanagement kein Nachteil ist.
Also keine Zentralisierung?
Die Krise wird am Ende immer vor Ort entschieden und nicht in Berlin. Aber natürlich muss der Bund schauen, wie die Kooperation besser laufen kann und welche Ressourcen die Helfenden brauchen. Die Zuständigkeiten zu ändern, würde zudem eine Verfassungsfrage berühren, die uns auf Jahre beschäftigen dürfte. Und das wollen wir nicht. Wir müssen heute handlungsfähig sein, nicht erst in fünf, sechs Jahren.
Die Länder fordern deutlich mehr Gelder vom Bund beim Bevölkerungsschutz: zehn Milliarden Euro in den kommenden zehn Jahren.
Investitionen in die Prävention vor Krisenlagen durch Bund und Länder werden sich auszahlen. Eine Resilienzsteigerung muss dabei entsprechend der Kompetenzen in Bund und Ländern erfolgen. Ich würde das nicht an einer einzelnen gegriffenen Summe festmachen, sondern an fachlichen Fragen, was wirklich nötig ist. Und der Bund gibt ja mehr Geld für den Bevölkerungsschutz. Wir haben zum Beispiel ein Sirenen-Förderprogramm aufgelegt, das den Ländern eine Anschubfinanzierung für den Ausbau gibt.
Das sind für 2024 neun Millionen Euro. Ist das nicht ein Tropfen auf den heißen Stein?
Das ist ja nur die Folgefinanzierung. Das Programm hatte anfangs bereits ein Volumen von 86 Millionen Euro. Und auch bei den Sirenen liegt die gesetzliche Zuständigkeit bei den Ländern. Hier geht der Bund also bereits auf die Länder zu. Ich freue mich aber, dass das erste Programm auch dazu geführt hat, dass die Länder hier zusätzlich eigenes Geld in die Hand nehmen: Das ist sehr im Sinne einer zügigen Ertüchtigung der Sirenenabdeckung.
Solche Summen sind aber weit entfernt von den geforderten Milliarden.
Ich glaube, allen ist inzwischen bewusst, dass wir in unsere Krisenresilienz investieren müssen. Die Finanzierung muss in den Parlamenten und zwischen den Regierungen geklärt werden.
Auch Ihrer Behörde soll im kommenden Haushalt Geld gekürzt werden. 162 Millionen Euro sollen Sie erhalten – vor zwei Jahren waren es noch 285 Millionen.
Wir haben in den vergangenen zwei Jahren von Konjunkturpaketen gelebt, also Sonderprogrammen. Das hat uns geholfen, bei vielen Dingen sehr schnell wirksame Anschubfinanzierungen zu machen. Wir müssen die heutige Zahl also mit 2019 vergleichen – und dann haben wir durchaus Gelder dazugewonnen.
Reicht Ihnen die Summe aktuell und künftig aus?
Aktuell können wir damit gut arbeiten, wir haben ja bereits erheblich in den Bevölkerungsschutz investiert. Um den wachsenden Anforderungen an einen effizienten Bevölkerungsschutz Rechnung tragen zu können, werden wir aber in Zukunft unsere Investitionen erhöhen müssen.
Braucht es auch im Katastrophenschutz eine Zeitenwende und ein Sondervermögen wie es die Bundesregierung der Bundeswehr versprach?
Eine wirksame Gesamtverteidigung setzt neben einer gut aufgestellten militärischen auch eine gute zivile Verteidigung voraus. Das gilt auch finanziell. Mit dem Angriffskrieg auf die Ukraine stehen wir vor wirklich neuen Fragen, die wir alle vergessen haben oder geglaubt haben, dass sie sich nicht mehr stellen. Was bedeutet Landesverteidigung für uns? Was Zivilschutz? Und wie sieht eine künftige zivil-militärische Zusammenarbeit aus?
Heißt das auch heute schon mehr Präsenz der Bundeswehr im Inland, wie zuletzt etwa in Corona-Impfzentren?
Diese Präsenz gibt es doch bereits. Das Militär ist heute schon sichtbarer, etwa zuletzt bei der Nato-Großübung in Rostock. Ich nehme darüber kein Befremden oder größere Kritik wahr. Wünschenswert wäre es, wenn die zivilen Einsatzkräfte so aufgestellt sind, dass sie ohne militärische Unterstützung auskommen. In besonderen Lagen ist die Bundeswehr jedoch eine wertvolle Hilfe.
Das Grundgesetz setzt dem Einsatz der Bundeswehr im Inneren enge Grenzen.
Beim Katastrophenschutz ist der Einsatz der Bundeswehr erlaubt. Die Bundeswehr leistet konkrete Hilfe vor Ort und wird von allen auch angenommen und positiv gesehen. So wie die Bundeswehr im Katastrophenschutz unterstützt, ist die zivile Seite allerdings auch als Partner für die Bundeswehr im Zivilschutz gefragt.
Sie hatten zuletzt auch vor Blackouts in Deutschland gewarnt wegen des Ukrainekriegs. Nach einiger Aufregung mussten Sie das relativieren. Wie vorsichtig muss man sein, um nicht auch Ängste in der Bevölkerung zu schüren?
Ich glaube, man braucht einen offenen Dialog, um Gefahren gemeinsam zu besprechen. Mir ging es damals darum, dass wir uns mit möglicherweise notwendigen Stabilisierungsmaßnahmen im Stromnetz auseinandersetzen.
Mit welchen Katastrophen müssen wir uns künftig auseinandersetzen?
Wir müssen Strukturen und Prozesse schaffen, die letztlich jeder Gefahrenlage standhalten können. Es wäre fahrlässig, das nur an einem Thema festzumachen. Wir können uns nicht nur auf ein Szenario vorbereiten. Daher verfolgen wir mit der Resilienzstrategie der Bundesregierung auch einen sogenannten All-Gefahren-Ansatz.
Ein weiteres Szenario wird Ende September von 50 Behörden im Rahmen der LÜKEX geübt: ein massiver Cyberangriff auf das Regierungshandeln.
Auch das zeigt, dass wir uns für alle Bedrohungslagen wappnen.
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