Bundesweite Corona-Notbremse: Eher Tempomat als Bremse
Die bundesweit geplanten neuen Corona-Regeln bedeuten nur für einige Bundesländer eine Verschärfung. Die Zahl der Intensivpatient*innen wächst.
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Gut drei Wochen ist es her, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel bei Anne Will verkündet hat, sie werde sich die steigenden Zahlen nicht noch zwei weitere Wochen tatenlos ansehen. Tatenlos ist Merkel zwar nicht geblieben, sondern sie hat die Änderung des Infektionsschutzgesetzes auf den Weg gebracht, die für bundesweit einheitliche Mindestregelungen oberhalb bestimmter Inzidenzwerte sorgen soll.
Gleichzeitig steht aber bereits fest: Seit Merkels Ankündigung sind die Coronazahlen in Deutschland deutlich gestiegen. Die gemeldeten Neuinfektionen liegen im 7-Tage-Mittel mit 20.312 Fällen pro Tag aktuell 26 Prozent höher als beim Interview der Kanzlerin, der 7-Tage-Mittelwert der Coronatoten ist um 30 Prozent auf 223 Tote pro Tag gestiegen. Und die Zahl der Coronapatient*innen auf Intensivstationen – die besonders zuverlässig ist, weil es dort kaum feiertagsbedingte Meldeverzögerungen gibt – ist seit Merkels Ankündigung vor gut drei Wochen sogar um 43 Prozent gestiegen.
Der Anstieg bei Neuinfektionen und Intensivpatient*innen hat sich damit im Vergleich zur Zeit vor den Osterferien zwar deutlich verlangsamt, doch die Zahlen steigen auf hohem Niveau weiter an. Und ob sich das ändert, wenn die neue Bundes-Notbremse in der nächsten Woche in Kraft treten sollte, ist offen.
Denn auf dem Papier gehen die bundesweiten Vorgaben nur an einigen Stellen über das hinaus, was eigentlich auch bisher schon gelten sollte. Neu ist vor allem die verbindliche Ausgangssperre, die jetzt wohl zwischen 22 und 5 Uhr und mit mehr Ausnahmen als zunächst geplant kommen soll. Vorgesehen ist sie in allen Gebieten mit einer Inzidenz von über 100 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner*innen innerhalb einer Woche. Das betrifft derzeit 361 der 412 Landkreise und kreisfreien Städte.
Keine Notbremse, sondern ein Tempomat
Auch beim Einzelhandel mit Ausnahme von Lebensmittelgeschäften und Drogerien hatten Bund und Länder eigentlich längst vereinbart, dass dieser bei einer Inzidenz von mehr als 100 schließen soll. Viele Bundesländer hatten aber erlaubt, dass Geschäfte weiterhin Kund*innen bedienen dürfen, die eine Termin ausmachen und einen tagesaktuellen negativen Corona-Schnelltest vorlegen. Das soll nach den Plänen von Union und SPD auch weiterhin möglich sein, aber maximal bis zu einer Inzidenz von 150.
Auch in den Schulen hängt es stark vom Bundesland ab, ob die bundesweiten Vorgaben eine Verschärfung bedeuten oder nicht. Länder wie Niedersachsen und Bayern setzen schon jetzt in der Regel auf Distanzunterricht, sobald die Inzidenz die Marke von 100 überschreitet. Mecklenburg-Vorpommern kündigte am Montag bei einer Inzidenz von 150 eine weitgehende Schließung der Schulen an. In Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg findet bis zu einer Inzidenz von 200 dagegen Wechselunterricht statt, in Sachsen und Thüringen gibt es auch bei Inzidenzen von weit über 200 noch Präsenzunterricht.
Das wäre in Zukunft nicht mehr möglich, wenn hier die Obergrenze von 165 kommt, die derzeit im Raum steht. Allerdings ist auch dieser Wert nach Ansicht des SPD-Gesundheitsexperten Karl Lauterbach noch viel zu hoch. Zudem sei die Gesamtinzidenz in der Bevölkerung für die Schulen der falsche Maßstab. „Wenn mehr Ältere geimpft sind, steigt die Inzidenz bei Eltern und Kindern stetig an“, warnte er. „Sie tragen das höchste Risiko.“
Ein großes Problem dürfte zudem sein, dass die vorgeschriebenen Schließungen sofort zurückgenommen werden dürfen, sofern die Inzidenz für fünf Tage unter den jeweiligen Grenzwert sinkt – was einen schnellen Wiederanstieg der Infektionszahl zur Folge haben dürfte. Denn eine solche Regelung, die unterhalb einer bestimmten Geschwindigkeit wieder beschleunigt, nennt man zumindest im Verkehr nicht Notbremse, sondern Tempomat.
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