Bürgermeister über Ostdeutschland: „Wir machen hier betreutes Sterben“
Die Zukunft Ostdeutschlands liegt in den Händen der BürgerInnen, sagt Dirk Neubauer. Er kritisiert das „Überkümmern“ um Ostdeutsche.
taz: Herr Neubauer, in Ihrem Buch loben Sie die „großartige Wiedervereinigung“, obschon Sie deren Folgen auf das Gemüt der Ostdeutschen kritisieren.
Dirk Neubauer: Das Verrückte ist, dass das aus meiner Sicht tatsächlich stimmt. Leider verbieten wir uns oft den Stolz darauf, dass wir es geschafft haben, an der bestbewachtesten Demarkationslinie der Blöcke friedlich etwas so zu drehen. Ein Fehler aber war unser bis heute anhaltendes Bemühen, Westdeutsche zu werden und den Westen nachzubauen. Ich verstehe nicht, warum wir uns nicht emanzipieren können.
Ist das nicht erklärlich, weil wir 1989 unvorbereitet in den Sturz der SED-Herrschaft stolperten, ohne eine eigene Alternative gehabt zu haben, die nicht Bundesrepublik hieß?
Zumindest in diesem Punkt müssen wir auch von der Verantwortungslosigkeit des Westens reden, der diese Situation ausgenutzt hat. Wir dürfen daraus aber nicht die Selbstentschuldigung ableiten, uns in eine ewige Opferecke zu stellen. Wir sind weder schlechter noch dümmer noch fauler, wir sind einfach nur weniger.
Sie bekunden einerseits Verständnis für StraßendemonstrantInnen, werfen ihnen aber zugleich vor, aus ihrer politischen Unmündigkeit nicht herauszukommen.
Es darf nicht beim Protest bleiben. Zum Wunsch nach Veränderung gehört auch, dass ich selbst die Korrektur versuche. Wir haben mehr Möglichkeiten, als wir glauben. Ein Drittel Nichtwähler beispielsweise verhält sich einfach nicht.
Ich kann auch dieses Beauftragtenwesen für den Osten nicht ausstehen, denn es verstärkt die Haltung „Man muss sich um uns kümmern!“ Und die SPD, der ich angehöre, kommt dem gern entgegen. Ich hingegen warne, dass dieses Überkümmern einen Krebsschaden an der Demokratie pflegt. So entstehen Erwartungshaltungen, die wir nie erfüllen können. Ganz abgesehen davon, dass wir so politischen Rattenfängern die Türen öffnen.
Sind BürgerInnen auf dem flachen Land demokratiemüde oder werden sie behindert?
Wir fahren nicht nur im Osten eine Förderpolitik, die die Demokratie zerstört. Es ist kontraproduktiv, wenn die Kommunen als die kleinsten politischen Zellen so an die Leine gelegt werden, dass sie kaum selbstwirksam werden können. Förderanträge, Zuweisungen suggerieren: Das ist Geld aus der Landeshauptstadt, das man freundlicherweise bekommt. Ein System des Misstrauens.
Was wäre die Alternative?
geboren 1971 in Halle, ist Bürgermeister der 4.500-EinwohnerInnen-Gemeinde Augustusburg und Autor des Buchs „Das Problem sind wir“.
Die Verfassung sichert eigentlich die kommunale Selbstverwaltung zu. In der Folge gehen immer mehr Leute, beispielsweise im Stadtrat, von der Fahne, weil sie merken, dass sie faktisch nichts mehr beschließen und bewirken. Wir geben nur Absichtserklärungen ab. Wir müssen das umdrehen, einfach mehr Vertrauen wagen.
Das versuchen Sie seit sieben Jahren im Amt.
Weil ich die Gefahr sehe, mit dieser Verweigerung das Land ins Unglück zu stürzen. Wir überspringen die schwierige Mitgestaltungsphase und setzen uns lieber mit verschränkten Armen hin und machen einfach nicht mehr mit. Immerhin haben wir im Osten den Erfahrungsvorsprung, dass man ein System durch Boykott verändern oder gar stürzen kann.
Glauben Sie, dass man den ehemaligen „Zonis“ demokratische Mitwirkungspflichten jetzt noch beibringen kann?
Ich glaube tatsächlich, dass das geht. Das setzt aber in den Köpfen eine politische Kehrtwende voraus. Wir sind immer noch eine Gesellschaft in Ausbildung, auf dem Weg.
In weniger prosperierenden und von Abwanderung betroffenen Regionen wie Mittelsachsen gibt es vermutlich größere mentale Hürden?
Wir sind nicht „abgehängt“! Ich habe mich vor 20 Jahren bewusst für eine Kleinstadt wie Augustusburg entschieden. Da kennt man die Bedingungen, da steht die Oper nicht gleich um die Ecke, und die Infrastruktur entspricht nicht der meiner Heimatstadt Halle. Wir haben aber auch höhere Erwartungen, als wir eigentlich zum Leben brauchen. Wir reden viel über die Entwicklung ländlicher Räume, aber die Politik meint es so nicht. Was wir hier machen, ist betreutes Sterben, eine Kapitulation vor der demografischen Entwicklung. Langfristig räumen wir die Räume. Ich aber sehe tatsächlich Potenzial.
… wenn der Wille zur Gestaltung ländlicher Räume nicht ausgebremst wird?
Sogar ein Wolfgang Schäuble redet von Bürgerräten. Wir brauchen Veränderung vor allem in Denkstrukturen, Entwicklungen stehen auf der Kippe. Kinder spüren schon unsere Einstellung: Du hast hier leider keine Chancen und musst weggehen. Sie versuchen gar nicht mehr, hier etwas zu machen. Dafür brauchen wir natürlich einen Politikwechsel, der einer Stadtgemeinschaft und ihren Räten ermöglicht, selber über ihre Entwicklungsprioritäten zu bestimmen.
Haben Urbanisierung und Landflucht nicht letztlich mit dem Grundgesetz des Kapitalismus zu tun, wonach der Teufel immer auf den größten Haufen scheißt?
Das ist ein Ungeist, keine Gesetzmäßigkeit. Es wird in den nächsten Jahren auch nicht darum gehen, wo man das größte Geld verdient. Wir stehen vor ganz anderen Herausforderungen der Nachhaltigkeit, der Energieautarkie oder dem Auffangen derer, die durch Digitalrationalisierung ihre Arbeit verlieren. In unserem Diskussionsformat Augustusburg 2050 kommen solche Themen von den Leuten. Wir sollten ihnen vertrauen, und wir sind nicht nur Wolfserwartungsland!
Halten Sie sich damit nicht nur an die wenigen Weiterdenkenden? Sie haben doch eingangs über Passivität und Abstinenz geklagt.
Viele haben sich tatsächlich zurückgezogen, weil sie verletzt sind.
Seelisch oder ökonomisch?
Beides. Wirtschaftlich zum Beispiel, wenn Kinder von ihren Eltern aufgebaute Betriebe nicht weiterführen. Man kann aber alle erreichen, wir können sie erreichen! Klagen sind eine Ausrede, denn andere erreichen sie ja auch. Nach dem Schock der Landtagswahl Sachsen 2019 mit dem AfD-Erfolg hat sich schon im Koalitionsvertrag wieder ein „Weiter so“ durchgesetzt. Wir wollen immer allen alles recht machen. Politik aber muss Prioritäten setzen.
Sind kleinere Kommunen in der Veränderungsbereitschaft schon weiter, weil sie nicht so vom Anspruchsdenken beherrscht werden?
Die Zukunft dieser Gesellschaft und der Demokratie wird immer mehr eine kommunale Sache sein, weil wir in einem begreifbaren Lebensumfeld operieren. Das wertet auch die Verantwortung von uns Bürgermeistern auf. Für viele Bürger hier ist Dresden der Mond, Berlin die Milchstraße und Europa außerhalb des Universums. Viele haben sich in 30 Jahren eingerichtet und sind stolz darauf, geraten aber jetzt in eine Sinnsuche.
WutbürgerInnen und AfD-WählerInnen sind häufig mit den großen Fragen überfordert.
Warum bauen wir dann die Politik nicht um? Wenn ich nur sehe, was in meinen sieben Bürgermeisterjahren an Entscheidungskompetenz Richtung zentrale Ebenen abgewandert ist! Das damit verbundene Berichtswesen an die immer weiter entfernten Entscheider ufert aus. Ich will nicht mehr Geld, sondern anders über es verfügen. Ich habe vorgeschlagen, zwei Drittel der kommunalen Förderprogramme zu streichen und dafür eine Pauschale pro Einwohner auszuzahlen. Dann merken die Bürger, dass sie demokratischen Einfluss auf die Verwendung haben.
In einem System des Misstrauens klappt das nicht.
Ich hatte mit Frank Richter gemeinsam ein Konzept „Macht teilen“ erarbeitet, das aber in den schwarz-rot-grünen Koalitionsverhandlungen völlig unterging.
1989 hofften viele, der Osten könne eine Modellregion für ganz Deutschland werden. Gilt das mit Blick auf schwache Kommunen immer noch?
Ich merke bei den zahlreicher werdenden Gesprächen, dass die Leute noch etwas wollen. Meine eindeutige Wiederwahl signalisiert, dass man tatsächlich eine Stimmung „Hier geht etwas“ erzeugen kann. Wir haben auch keine AfD im Stadtrat. Deshalb bin ich so überzeugt, dass die Keimzelle einer erneuerten Demokratie die Kommune sein wird. Und das ist, so paradox es klingen mag, im Osten eher möglich. Wir sind immer noch beweglicher, und wir haben vielleicht auch den größeren Leidensdruck.
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