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Buch über linke LethargieKlassenbewusstsein als Willensakt

Jean-Philippe Kindlers Buch versucht, linke Debatten vom Individualismus zu befreien. Dabei lässt es Antisemitismus weitgehend aus.

Gemeinsam Zukunft Gestalten: Eine Demo von internationalen Gewerkschaften und linken Initiativen zum 01. Mai 2022 in Berlin Foto: Stefan Boness/Ipon

In den sozialen Medien erreichte der Kabarettist Jean-Phillipe Kindler mit deftigen Kurzvideos Popularität. Gerne werden seine prägnanten Kommentare zur Tagespolitik geteilt. Sein Markenzeichen: eine im radikalen Gestus vorgetragene Angriffslust.

Es versteht sich fast von selbst, dass dabei eine sich unter CDU-Chef Friedrich Merz weiter nach rechts öffnende CDU ebenso ihr Fett wegbekommt wie Christian Lindners FDP. Auch auf Befindlichkeiten der eigenen linken Bubble nahm Kindler selten Rücksicht. So beispielsweise als er polyamouröse Beziehungen in den Kontext kapitalistischer Ideologie stellte und dafür einen Shitstorm erntete.

Auf solche Kritik ging er oft in seinem Podcast „Nymphe und Söhne“ ein. Dort lieferte er regelmäßig ausführlichere Analysen, welche die Polemik der Videos kontextualisieren sollten. In bekannter Logik der Aufmerksamkeitsökonomie intervenierte er nicht nur provokant in Debatten, sondern zeigte sich hinterher auch diskussions- und reflexionsbereit. Man fühlt sich dabei an die amerikanischen dirtbag left erinnert, die ebenfalls mit einer Mischung aus Vulgarität und Analyse versucht, die dortige Linke aus ihrer Lethargie zu lösen.

Klassenbegriff unterm Weihnachtsbaum

Das Buch

Jean-Philippe Kindler: „Scheiß auf Selflove, gib mir Klassenkampf“, Rowohlt Verlag, Hamburg 2023, 160 Seiten, 12 Euro

Kindler gibt es nun auch zum Lesen. Ein kleines, rotes Büchlein. Auf 150 Seiten soll repolitisiert werden, was durch Neoliberalismus entleert und vereinzelt wurde: „Scheiß auf Selflove, gib mir Klassenkampf“ kam wie gelegen als lieb gemeintes Geschenk für Studis, die den Klassenbegriff unterm Weihnachtsbaum finden wollen. Aber finden sie den dann auch?

Der Klappentext verspricht „ein wütendes, inspirierendes, langersehntes Buch“, und wer nur eines der Kindler Videos kennt, glaubt sich vorstellen zu können, was einen erwartet. Doch bei der Lektüre stellt man fest, dass sich der Ton des Buchs von Kindlers pointierten Videos unterscheidet. Es ist ihm zu ernst, als dass er einfach nur seinen wütenden Markenkern ausformuliert. Oder möchte er vielmehr ernst genommen werden?

Die sechs Kapitel des Buchs wollen nicht weniger, als dass die Welt mal wieder kopfsteht. Die Diskussionen über Armut, Glück, Klimakrise, ­Demokratie, Linkssein und das gute Leben will Kindler vom Individualismus befreien. Auffällig ist, dass statt der Kritik am Kapitalismus vor allem der Neoliberalismus und seine Ideologie kritisiert wird. Auch wenn kurzzeitig die liberale Demokratie an den Pranger gestellt wird, bleibt offen, ob der Neoliberalismus als neuestes Symptom oder als Krankheit gesehen wird.

Unklar bleibt auch, ob Kindler Sympathien für den britischen Staatssozialismus der Nachkriegsjahre empfindet – oder ob dieser auch nur „Kapitalismus plus Wahlen“ war. Es war die dortige politische Macht der Arbeiterschaft, gegen die sich die neoliberale Politik der britischen Premierministerin Margaret Thatcher richtete.

Aufklärerischer Gestus

Kindlers Forderung staatlicher Regulierungen des Marktes oder seine Sympathien für keynesianische Ökonomiemodelle legen den Verdacht nahe, dass seine politischen Vorstellungen ähnlich sein könnten.

Mit einer Mischung aus Ideologiekritik und Angebot zum integrativem Selbstverständnis statt Optimierungswahn will Kindler den Druck vom jungen und krisengebeutelten Individuum nehmen. Ihnen möchte er eine Perspektive auf das gute Leben bieten, von der er sich wohl als Nebenprodukt verspricht, dass dies dann auch Ar­bei­te­r*in­nen erreicht.

In aufklärerischem Gestus möchte er die Ideologie als Lüge entlarven – fragt aber nicht nach dem eigenen „nötigen, aber falschen Bewusstsein“ (Adorno). In völliger Ignoranz zahlreicher marxistischer Debatten seit Lenin wird das Klassenbewusstsein wieder zum Willensakt verklärt.

Vermissen lässt der Autor auch eine Antwort auf den Rechtsruck. An diesem ließe sich sehr deutlich erkennen, dass Ideologie mehr als eine einfach zu durchschauende Lüge ist. Gewerkschaftlich organisierte Ar­bei­te­r*in­nen wählen nicht einfach nur die AfD, weil die Linke momentan zu keiner Organisierung der Massen fähig ist. Die neue Partei Sahra Wagenknechts lässt sich nicht damit aus der Welt schaffen, dass die Linke „ideologisch harmonisiert“ auftritt. Im Gegenteil.

Anfälligkeit für antisemitische Agitationen

Gerade da, wo die Linke aktuell „ideologisch harmonisiert“ aufritt, wo die dirtbag left von massenhafter Solidarität schwärmt, zeigt sich ihre Anfälligkeit für antisemitische Agitationen. Die Bezüge auf eine gemeinsame internationale Klassenidentität sind nicht weit, wenn Mil­lio­nen Menschen auf die Straße gehen und die Parole „from the river to sea“ anstimmen.

So ist Antisemitismus eine weitere Leerstelle in Kindlers Buch. Er zitiert zwar die Theoretikerin Hannah Arendt – „wer als Jude angegriffen würde, müsse sich auch als Jude verteidigen“ –, doch Kindler spricht in der Folge von Rassismus, Sexismus und Queerfeindlichkeit. Nicht vom jüdischen oder gar israelischen Recht auf Selbstverteidigung.

Selbst in der Passage, die sich gegen die Personalisierung von Kapitalismuskritik ausspricht, sucht man vergebens nach einer Erwähnung des Antisemitismus. Nachjustiert wurde hier zuletzt in seinem Podcast.

Kindler ist der Linke im kapitalistischen Realismus. Nichts Neues, nur neu gemixt. Ist es die Angst vor den eigenen Ansprüchen als linker Emporkömmling und letzte Hoffnung oder doch die vor den großen Idealen in kleinen roten Büchlein? Zumindest eine Sache sollte dem Buch dann doch gelungen sein: die Anregung zu Diskussionen über den Zustand der Linken.

Anm. der Redaktion: Der Artikel wurde nachträglich gekürzt.

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