Buch über NS-verfolgte Intellektuelle: Ausweg aus Europa
Viele deutsche Intellektuelle flüchteten vor den Nazis nach Frankreich. Davon erzählt der Autor Uwe Wittstock in seinem neuen Buch.
Nichts von dem, was er schildere, so führt Uwe Wittstock im Vorwort zu seinem jüngst erschienen Buch „Marseille 1940“ aus, sei erfunden. „Alles ist belegt.“ Wovon er daraufhin berichtet, ist eine der größten Fluchtbewegungen in der jüngeren Geschichte Europas. Im Mai 1940 war die deutsche Wehrmacht in Frankreich eingefallen und hatte dessen Truppen nahezu überrannt.
Nach der darauffolgenden Zweiteilung des Landes im Waffenstillstand von Compiègne versuchten unzählige Menschen panisch die Demarkationslinie in den noch unbesetzten Süden zu überqueren und so der drohenden Verfolgung durch das nationalsozialistische Deutschland zu entgehen. Als einziger der unmittelbaren Kontrolle durch die Besatzer noch entzogene Überseehafen verwandelte sich Marseille für viele von ihnen in den letzten Hoffnungsschimmer auf einen rettenden Ausweg aus Europa.
Zur Flucht gezwungen sahen sich damals auch zahlreiche Literatinnen und Schriftsteller, Künstlerinnen und Intellektuelle aus dem deutschsprachigen Raum, die aufgrund ihrer jüdischen Herkunft oder politischen Tätigkeit bereits in den Jahren ab 1933 ins französische Exil gegangen waren.
Uwe Wittstock: „Marseille 1940. Die große Flucht der Literatur“. C. H. Beck, München 2024, 351 Seiten, 26 Euro
Ihnen gilt Wittstocks besonderes Interesse. In atmosphärisch dichten Miniaturen folgt er zahlreichen einflussreichen wie bisweilen weniger bekannten Protagonisten des damaligen Geisteslebens auf ihrem strapaziösen Weg durch Frankreich.
Arendt, die Manns, Feuchtwanger
So begleitet er unter anderem Hannah Arendt und die gleichsam um ihre Kinder wie um ein Manuskript besorgte Anna Seghers durch Paris oder skizziert das von Sorge und Animosität durchzogene Verhältnis zwischen dem bereits nach Nordamerika entkommenen Thomas Mann zu seinem Bruder Heinrich und dessen zweiter Frau Nelly.
Er schildert die desaströsen Bedingungen, denen sich Lion Feuchtwanger oder Alfred Kantorowicz in französischen Internierungslagern ausgesetzt sahen, und kontrastiert sie mit dem oft vergeblichen Versuch der Eheleute Franz und Alma Mahler-Werfel, noch auf ihrer Odyssee ein gewisses Maß an Luxus zu bewahren.
Fluchtpunkt all jener Schicksale ist Marseille. Dort laufen die quer durch Frankreich und Europa führenden Linien schließlich bei Varian Fry zusammen. Fast mehr noch als die Stadt bildet Fry das eigentliche Zentrum des Buchs. Der vormalige Journalist koordinierte von Marseille aus die Arbeit des zuvor mit hochrangiger Unterstützung in den Vereinigten Staaten gegründeten Emergency Rescue Committee.
Die Arbeit des Komitees zielte dezidiert darauf, namhafte europäische Intellektuelle durch Emigration nach Amerika vor dem Zugriff der Nationalsozialisten zu retten. Obgleich es Fry mit einigen Unterstützern wie Hans und Lisa Fittko gelang, über die Monate Hunderten von Verfolgten die Flucht aus Marseille über den Atlantik zu ermöglichen, blieb ihr Bemühen in anderen Fällen vergeblich. Zum tragischen Emblem dafür wurde der Tod Walter Benjamins Ende September 1940 in Portbou.
Ein Mosaik zusammensetzen
Aus seinen chronologisch angeordneten, geografisch und personell jedoch stets changierenden Vignetten setzt Wittstock nach und nach ein immer dichter werdendes Mosaik zusammen. Dabei gelingt es ihm durchaus, einen Eindruck der zwischen allseitiger Angst und Orientierungslosigkeit, dem Verfall früherer Gewissheiten und drohender Vergeblichkeit sowie der immer wieder von neuem drängenden Hoffnung zerrissenen Atmosphäre zu vermitteln.
Wohlwollende Leser mag das an Jean Malaquais’ facettenreichen Roman „Planet ohne Visum“ von 1947 erinnern. Denn tatsächlich liest sich das Buch nicht zuletzt durch die Verwendung des historischen Präsens und die – offenbar aus den Quellen entnommenen – Konversationen in direkter Rede über weite Strecken wie ein Abenteuerroman.
Ein Eindruck, der sich durch bisweilen fehlende Distanz gegenüber den Protagonisten und wiederkehrende, boulevardeske Schilderung aus ihrem Liebes- und Privatleben noch verstärkt. Ob das dem Anspruch eines Sachbuchs zu diesem Gegenstand angemessen ist, sei dahingestellt.
Heikler Stoff
Schwerer wiegt indessen etwas anderes. Seine detailgesättigten Schilderungen schöpft Wittstock vornehmlich aus Briefen, Tagebuchaufzeichnungen und Autobiografien seiner Protagonisten. Abgesehen vom angehängten Literaturverzeichnis liefert er jedoch keine direkten Nachweise. So werden längere, aus den Selbstzeugnissen entnommene Episoden wie historische Gewissheiten präsentiert. Freilich sind viele von ihnen durchaus plausibel.
Uwe Wittstock: „Marseille 1940. Die große Flucht der Literatur“. C. H. Beck, München 2024, 351 Seiten, 26 Euro
Doch ist auch Wittstock bewusst, wie dem Nachwort zu entnehmen ist, dass Erinnerungen „ein heikler Stoff“ sind. Sie sind, so müsste man hinzufügen, keinesfalls gesichertes Wissen, sondern immer lückenhaft, brüchig und in eine spezifische Überlieferungsgeschichte eingepasst. Wo nicht einmal klar ist, auf wen sie zurückgehen, wird es schwierig.
Darüber hinaus lässt das Buch manche Frage unbeantwortet. Warum sich Wittstock nahezu ausschließlich auf deutschsprachige Intellektuelle in seiner Darstellung beschränkt, bleibt offen. Zumal die rekonstruierten Schicksale, so der Anspruch des Buchs, stellvertretend für alle jene unbekannten Flüchtlinge stehen sollen, deren Geschichte nicht überliefert ist.
Nur stellt sich die Frage, ob die Erfahrungen der mehrheitlich mittellosen Emigranten sich tatsächlich in den Lebenswegen und Erinnerungen von bisweilen weltberühmten Literaten spiegeln, die unter nicht unerheblichem Aufwand und gezielt gerettet werden sollten.
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