Buch über „Hitlers queere Künstlerin“: Wie kann eine Person solche Widersprüche vereinen?
Die Kunstwissenschaftlerin Nina Schedlmayer beleuchtet in einer Studie das widersprüchliche Leben der expressionistischen Malerin Stephanie Hollenstein.
Wie kriegt man das zusammen? In der Vita und dem Werk der österreichischen Malerin Stephanie Hollenstein drängen sich Widersprüche, die kaum auszuhalten und noch schwerer zu begreifen sind. Hollenstein wurde 1889 in eine prekäre Bauern- und Stickerfamilie in Vorarlberg geboren und malte erste Bilder angeblich beim Viehhüten mit Kuhschwanzpinsel und Beerenfarben. 1907 brach sie 18-jährig allein auf nach München, der damals progressivsten Kunststadt mit brodelnder Boheme-Szene, hatte dort zahlreiche lesbische Affären und galt als eiskalte Herzensbrecherin.
Als Rotkreuzschwester abgelehnt, zog sie als Soldat Stephan verkleidet in den Ersten Weltkrieg. In den 1920er Jahren bestritt sie ihren Lebensunterhalt als expressionistische Malerin, lebte ihre Homosexualität offen aus, war Mitbegründerin einer protofeministischen Künstlerinnengruppe und eine gewiefte Netzwerkerin, die ihre Kontakte in alle Richtungen clever zu nutzen wusste.
All das, was sie aus heutiger Sicht zu einer Ikone früher Genderfluidität machen könnte, hinderte sie jedoch nicht daran, besonders eilig der NSDAP beizutreten und als fanatische Verehrerin Adolf Hitlers Schriften zu veröffentlichen, die von ihrem glühenden Antisemitismus zeugen. Wie kann eine Person derartig extreme Polaritäten in sich vereinigen, progressiv, ästhetisch auf der Höhe der Zeit und zugleich zutiefst reaktionär sein?
Die Wiener Kulturpublizistin Nina Schedlmayer hat diese psychologischen, ideologischen und nicht zuletzt auch ästhetischen Widersprüche akribisch recherchiert. Sie zitiert aus Briefen und Aufzeichnungen Hollensteins, aus zeitgenössischen Rezensionen über Hollensteins Werk, aber auch aus der Literatur und Publizistik dieser Zeit und entwickelt ein Panorama von beinahe verwirrender Komplexität.
Nina Schedlmayer: „Hitlers queere Künstlerin – Stephanie Hollenstein – Malerin und Soldat“. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2025, 320 Seiten, 29,95 Euro.
In beunruhigender Weise wirft sie damit Schlaglichter auf die Bruchlinien einer noch immer unbewältigten Vergangenheit, die sich bis in die unmittelbare Gegenwart fortsetzt und heute wohl am treffendsten mit dem Begriff der kognitiven Dissonanz zu fassen ist. Im Vorwort schreibt Schedlmayer: „Plötzlich kämpfen LGBTQIA+ Aktivist*innen gegen sogenannte TERFs („transexclusionary feminists“), Alt68er gegen ‚Wokeness‘. Ehemalige Grüne demonstrieren Schulter an Schulter mit Identitären gegen Corona-Maßnahmen. Der Überblick, wer gegen oder für wen ist, ging längst verloren.“
Die Ambivalenzen aushalten
Sachlich und quellenreich schildert Schedlmayer das Leben Hollensteins, ohne ihre schillernde Gestalt in eine Ecke zu drängen, sie moralisch zu bewerten oder künstlerisch als minderwertig zu denunzieren, im Gegenteil: „Hollenstein war, technisch betrachtet, eine brillante Malerin: Ihre Porträts sind psychologisch durchdringend, ihre Landschaften beeindrucken durch intensive Farbigkeit und Ausdrucksstärke.“
Schedlmayer würdigt ihren mutigen Eigensinn, ihre Durchsetzungskraft und Willensstärke und hütet sich vor küchenpsychologischen Spekulationen bezüglich Hollensteins bewegtem Privatleben. Diese Fähigkeit, die Ambivalenzen dieser Figur auszuhalten, bringt Schedlmayer auf die griffig-ungriffige Formel „einer modernen Reaktionärin und einer reaktionären Modernen“ zwischen Dirndl und Bauhaus, die ihrer Zeit in vielerlei Hinsicht voraus war.
Aufgelockert mit doku-fiktionalen Passagen und flott geschrieben, liegt die besondere Stärke von Schedlmayers Studie darin, dass sie ihre Biografie Stephanie Hollensteins konsequent vor dem Hintergrund der Gegenwart entwickelt. In der ist schließlich eine lesbische Frau Vorsitzende einer rechten Partei, die vehement gegen Queerness hetzt.
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