Buch „Die Rache ist Mein allein“: Vergiftete Brote für die SS
Dina Porat beschreibt erstmals umfassend den Versuch überlebender Jüdinnen und Juden, nach der Schoa möglichst viele Deutsche umzubringen.
Vor etwa sieben Jahren traf ich in einem Tel Aviver Altersheim Yehuda Maymon, der 1924 unter dem Namen Leopold Wassermann in Polen geboren wurde. Der freundliche alte Herr erzählte, er habe nach seiner Flucht von einem der Todesmärsche aus Auschwitz zusammen mit einer Gruppe geplant, Deutsche umzubringen.
Er berichtete von ihrer Absicht, das Brot in einem US-Gefangenenlager für SS-Männer zu vergiften. Als ich ihn fragte, ob wir uns bei Gelegenheit zu einem längeren Gespräch treffen könnten, winkte Maymon ab. Er habe doch schon alles dazu Dina Porat gesagt.
Dina Porat: „‚Die Rache ist Mein allein.‘ Vergeltung für die Schoa: Abba Kovners Organisation Nakam“. Aus dem Hebräischen übersetzt von Helene Seidler. Verlag Brill | Schöningh, Paderborn 2021, 414 Seiten, 34,90 Euro
Nun hat die emeritierte Tel Aviver Professorin nach langwierigen Recherchen ihre Monografie zu diesem nahezu unbekannten Kapitel am Ende des Zweiten Weltkriegs vorgelegt: Porats Buch trägt den Titel „Die Rache ist Mein allein“.
Es geht dabei um eine Gruppe junger jüdischer Überlebender um den litauischen Dichter Abba Kovner, die umfassende Pläne dazu anstellte, den Massenmord an den Juden gegenüber den Deutschen zu vergelten. Letztlich scheiterten diese Vorbereitungen, und nur wenige Eingeweihte erfuhren darüber mehr als ein paar Schlagworte.
Die wenigen, die überlebt haben
Als sich der Zweite Weltkrieg dem Ende zuneigte, als mehr und mehr Städte im Osten und Westen Europas befreit wurden, war das auch gleichbedeutend mit dem Ende des Martyriums der wenigen Juden, die die Schoa überlebt hatten. Besonders in Osteuropa hatten einige von ihnen, selbstständig oder in Zusammenarbeit mit der Roten Armee, als Guerillakämpfer in den Wäldern gegen die Deutschen gekämpft.
Viele Überlebende waren nach dem Angriff der Wehrmacht in den Osten der Sowjetunion geflüchtet und hatten dort den Krieg überstanden. Wenige überlebten als Zwangsarbeiter in Arbeitslagern und KZs, noch weniger im Versteck.
Nahezu allen aber stellte sich die Frage, ob die Taten der Nazis und ihrer Helfer ungesühnt bleiben sollten. Schon bei der Befreiung von Lagern kam es vereinzelt zu Aktionen gegen die Wachmannschaften. Rachemotive in den besetzten Ländern gegen die deutschen Besatzer waren reichlich vorhanden, und es kam von vielen Seiten zu solchen Aktionen, etwa bei der Vertreibung der Deutschen aus den Ostprovinzen.
Doch gab es im Chaos Nachkriegseuropas nur sehr vereinzelt Tötungen vonseiten jüdischer Überlebender an ihren Peinigern – mit einer großen Ausnahme, der Porat detailliert nachgeht.
Nakam – Hebräisch für Rache
Abba Kovner hatte als Partisanenkämpfer überlebt. Nach der Befreiung kam der charismatische Redner ins polnische Lublin, wo er rasch eine Gruppe um sich sammelte, nur gut fünfzig junge Frauen und Männer, die aber zu allem entschlossen waren. Lublin, das war auch der Ort des Konzentrationslagers Majdanek.
Diese Gruppe „Nakam“ (Hebräisch für Rache) verfolgte drei Ziele. Als überzeugte Zionisten wollten ihre Mitglieder den gestrandeten Jüdinnen und Juden dabei helfen, nach Erez Israel auszuwandern. Als Lehre aus den Geschehnissen waren ihre Mitglieder zudem der Überzeugung, dass ein gemeinsames Agieren der Überlebenden jenseits der starken Fraktionierungen innerhalb des Zionismus notwendig war. Und schließlich stand auf ihrem Programm ein Hauptziel: die Rache an den Deutschen.
Dina Porat begleitet die Wege dieser klandestinen Vereinigung: ihre Vorbereitungen in Bukarest, die Unterstützung der Auswanderung, „Bricha“ genannt, und das erste Zusammentreffen mit der jüdischen Brigade, einem Verband innerhalb der britischen Armee, der vor allem palästinensische Juden umfasste, in Norditalien kurz nach dem Waffenstillstand.
Einzelne Soldaten dieser Brigade hatten da ihrerseits, selbstverständlich ohne Wissen ihrer britischen Kommandeure, damit begonnen, in den Alpen lebende SS-Männer zu jagen und umzubringen. Die Vorstellungen der Kovner-Gruppe stießen bei ihnen durchaus auf Sympathie, doch unterblieb eine Kooperation.
Land der Täter
Ganz anders verhielt es sich mit den Rettungsaktionen für die Juden Osteuropas. Hier spannten die Soldaten zusammen mit Freiwilligen aus Erez Israel und den Überlebenden selbst ein umfassendes Netzwerk, das die Überlebenden auf illegalen Wegen und über mehrere Grenzen hinweg ausgerechnet nach Deutschland und Österreich führte.
Dort, insbesondere in der US-Zone, galten die Chancen für eine spätere Überfahrt als günstig. So erreichten tatsächlich weit mehr als 100.000 Juden nach dem Krieg das Land der Täter – quasi als Transitstation.
Abba Kovners Vorstellungen über eine Rache an den Deutschen stießen hingegen bei den führenden Zionisten im damaligen britischen Mandatsgebiet Palästina auf strikte Ablehnung. Dort bereitete man sich auf eine Staatsgründung vor, jegliche Aktivitäten, die von den Alliierten abgelehnt wurden und das Image des Zionismus beschädigen könnten, galten da als unpassend. Auch die Idee einer überparteilichen Überlebendenorganisation löste Befremden aus.
Nun gingen Kovners Vorstellungen tatsächlich weit über den Mord an einzelnen verantwortlichen SS-Männern hinaus. In einem „Plan A“ sahen sie die Tötung von sechs Millionen Deutschen vor, etwa durch eine Vergiftung des Trinkwassers. Sollte diese Absicht nicht zu verwirklichen sein, beabsichtigte ein „Plan B“ die Tötung einer möglichst großen Anzahl von Nazis.
Der „Plan A“
Porat beschreibt anhand von unzähligen Dokumenten und Interviews mit Beteiligten detailliert, warum dieser „Plan A“ schon im Ansatz scheitern musste. Die zionistische Führung lehnte den geplanten Massenmord von Beginn an strikt ab, auch aus moralischen Gründen. Kovner, unter der Tarnung als Soldat der jüdischen Brigade nach Palästina einbestellt, fand dort nur geringe Unterstützung.
Es gelang ihm allerdings, Gift zu besorgen und auf seiner Rückreise nach Marseille mitzunehmen. Doch dort angekommen flog seine Tarnung auf, das Gift landete im Mittelmeer, Kovner im Gefängnis. Damit war „Nakam“ ihres Kopfes beraubt. Doch ihre Mitglieder machten weiter, verzehrt vom Hass auf die Deutschen. Porat gelingt es in ihrem Buch, diese Motive verständlich zu machen, wichtig, gerade weil diese so gar nicht ins Bild der heutigen deutsch-israelischen Verständigung passen mögen.
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Damals waren sie sehr passend. „Berührt sie nicht, ignoriert sie. Es ist nicht unsere Aufgabe, ein Unrecht mit einem anderen Unrecht zu vergelten.“ So äußerte sich Rabbiner Leo Baeck nach seiner Befreiung aus dem Ghetto Theresienstadt, als einige Mithäftlinge Rache an ihren Peinigern übten.
Rache gehöre Gott allein. Auch andere Autoritäten der jüdischen Welt lehnten solche Aktionen ab. Angesichts der grauenhaften Geschehnisse stellt sich freilich nicht die Frage, warum es vereinzelt zu jüdischen Revanche-Aktionen gekommen ist, sondern warum es so wenige waren, die daran teilnahmen.
Arsen für die SS-Männer
Diese wenigen hatten sich inzwischen in Deutschland aufgeteilt, getarnt als ehemalige Zwangsarbeiter. Die Zentrale der Organisation „Nakam“ befand sich in Paris, so wie auch das Hauptquartier der Rettungsaktion „Bricha“. Beide operierten jenseits der Gesetze – aber durchaus getrennt.
Wiederholt machten die „Bricha“-Verantwortlichen, die mit direkter Unterstützung der jüdischen Gemeinschaft in Palästina arbeiteten, den nach Rache dürstenden „Nakam“-Leuten klar, dass ein Massenmord an Deutschen nicht infrage käme. Anders verhielt es sich mit einer gezielten Aktion gegen SS-Männer. Eine solches Vorgehen, so die Signale, könne man sich durchaus vorstellen.
Und so kam es, dass in der Nacht vom 13. auf den 14. April 1946 drei Juden in einer Nürnberger Bäckerei Tausende Brote mit Arsen bestrichen. Das Brot war für ein großes US-Gefangenenlager für SS-Angehörige im Stadtteil Langwasser bestimmt, das Gift kam aus Paris und musste vor der Anwendung verdünnt werden.
An den folgenden Tagen litten Hunderte SS-Männer unter heftigen Bauchschmerzen. Mehr geschah nicht. Kein einziger der Nazis war gestorben. Weshalb das Arsen nicht seine gewünschte tödliche Wirkung gezeigt hatte, ob es zu stark verdünnt oder unzureichend umgerührt worden war, ob die „Bricha“-Leute damit etwas zu tun hatten – dieses Detail konnte auch Dina Porat nicht mehr ganz aufklären.
Die unvorstellbare Aussöhnung
Die Frauen und Männer der Organisation „Nakam“ wurden kurz darauf unter tätiger Mithilfe der „Bricha“ auf klandestinen Wegen nach Palästina verbracht. Manche machten Karriere, andere gingen in Kibbuzim. Zu besonderen Anlässen traf man sich.
Yehuda Maymon, der Mann im Tel Aviver Altersheim, sagte mir bei unserer Begegnung, heute begrüße er die Aussöhnung zwischen Israelis und Deutschen, die er sich damals nicht habe vorstellen können. Seine persönlichen Worte sind so ziemlich das einzige Detail, das nicht in Dina Porats enorm materialreicher Studie auftaucht.
Ihr Buch ist nicht nur wichtig, weil es ein nahezu unberührtes Thema der Geschichte umfassend aufklärt. Es hilft auch zu verstehen, was das Menschheitsverbrechen Holocaust angesichts des Mordes an ihren Kindern, Eltern und Verwandten mit den Überlebenden gemacht hat. Michael Brenner nennt die Pläne von „Nakam“ im Vorwort zu Recht „verbrecherisch“. Doch sie waren das Ergebnis eines noch viel größeren Verbrechens.
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