Obdachlos in Berlin: „Ich will mal zur Ruhe kommen“

Manni P. ist 30 und seit 12 Jahren obdachlos. Er wünscht sich jemanden, der hinschaut, ihn ernst nimmt. Eine Wohnung würde er sofort annehmen.

Blick in einem gelbgestrichenen Raum voller Tische

Ein Ort, um zumindest für einen Moment zur Ruhe zu kommen: die ehemalige Gerhart-Hauptmann-Schule Foto: Christian Mang

Manni P. „hat Köpfchen“, wie er von sich sagt, aber irgendwie sei er immer durchs Raster gefallen. Es brauche endlich mal jemanden der hinschaut, der ihn ernst nimmt. Mittlerweile ist er 30, und so langsam fahre der Zug ab, ohne ihn, meint er und zieht lange an seiner Zigarette.

Sein Äußeres wirkt gepflegt und Zähne hat er auch. Er trägt einen schwarzen Windbreaker, die kurzen Haare sind gewaschen und gekämmt. Er ist erschöpft, hat leichte Augenringe, trotzdem lacht er viel. An diesem Frühsommerabend sitzt er auf einer kleinen Steinmauer unweit der ehemaligen Gerhart-Hauptmann-Schule, neben ihm eine Portion Abendbrot.

Die Johanniter Unfallhilfe macht armen und obdachlosen Menschen in dem Kreuzberger Schulgebäude ein niedrigschwelliges Angebot. In den Sommermonaten gibt es zur „Kiezmahlzeit“ neben Essen auch eine Kleiderkammer und medizinische Versorgung. Im Winter können Männer dort zusätzlich übernachten.

Die Notunterkunft öffnete erstmals in der Kältesaison 2018/19 und wird vom Senat finanziell gefördert. Die Gäste, wie die Obdachlosen hier genannt werden, können essen, duschen und zumindest für einen Moment zur Ruhe kommen. Auch Manni P. ist hier häufiger Gast. Er ist dankbar und behauptet, diese Hilfe sei der richtige Ansatz.

Seine Geschichte ist kein Einzelfall

Seine Geschichte ist kein Einzelfall. In Berlin leben mehrere tausend Menschen ohne festen Wohnsitz, wie es auf Amtsdeutsch heißt. 2020 gab es erstmals eine Zählung unter Leitung der Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales. Das Ergebnis: Knapp 2.000 obdachlose Menschen, die im öffentlich zugänglichen Raum und in den Notunterkünften übernachtet haben, wurden gezählt.

Dabei handelte es sich nur um die „Anzahl sichtbar obdachloser Menschen, die an dem festgelegten Stichtag angetroffen wurden“, wie auf der Website des Projekts „Zeit für Solidarität“ zu lesen ist. Um relevante Tendenzen über das Ausmaß von Obdachlosigkeit zu identifizieren und damit passgenaue Hilfen anbieten zu können, sind weitere Erhebungen geplant.

Die nächste Zählung sollte eigentlich im Juni, am heutigen Mittwoch stattfinden und musste kürzlich wegen zu weniger Freiwilliger auf Januar 2023 verschoben werden. Die Methodik, so heißt es, sei mit einer geringeren Anzahl als 2.400 Ehrenamtlichen nicht umzusetzen. Gemeldet hatten sich bisher etwa halb so viel. In der Öffentlichkeit wird kontrovers über die Sinnhaftigkeit dieses Projektes diskutiert. Manni P. befürwortet grundsätzlich jede Initiative, die helfen will – so auch die nun abgesagte Zählung von Obdachlosen im Rahmen der „Zeit der Solidarität“. Wenn nachts jemand an ihn herantrete, mache ihm das aber auch Angst.

Eingang zur Notübernachtung in der Ohlauer Straße in Berlin

Eingang zur Notübernachtung Foto: Sean-Elias Ansa

„Ich habe keinen Bock, heute Nacht wieder draußen zu schlafen“, sagt Manni P. und stützt sich dabei mit einer Hand auf der kleinen Mauer ab. „Ich weiß nicht, was ich machen soll. Ich habe kranke Gedanken. Ich will mal zur Ruhe kommen. Ich will mal abschalten können.“ Für den Obdachlosen ist das Leben eine permanente Gefahr; Vertrauen und Halt sind für ihn Unbekannte. „Wer kommt auf mich zu?“, frage er sich nachts in seinem Schlafsack. Sicher schlafen sei im Görlitzer Park unmöglich.

Er sei Deutscher, was er zurzeit aber nicht belegen kann, da er vor ein paar Tagen beklaut worden sei: Ausweis, Handy, Krankenkassenkarte – alles weg, berichtet er. Und wirkt verzweifelt, als er darüber spricht. Seine Blicke suchen Halt im Raum, aber dieser Moment der Nahbarkeit ist kurz. Schnell kaschiert er ihn mit abwiegelnden Worten: „Ja, was soll’s, ist halt so“. In den 12 Jahren, die er nun mit kurzen Unterbrechungen obdachlos sei, habe er schon ganz andere Sachen erlebt.

Jeder Tag ist ein Kampf

Für Manni P. ist jeder Tag ein Kampf. Besonders belastend sei die Tatsache, dass er aktuell keine Medikamente habe, berichtet er. Er leide an ADHS und brauche Ritalin, um nicht völlig „drüber zu sein“. Dadurch verhalte er sich verändert und habe „Party im Kopf“.

Die Welt, die ihn umgibt, nimmt er als hinterhältig und gemein wahr. Er wittert ständig eine neuerliche Katastrophe auf sich zukommen und unterstellt seinem Umfeld, ihm schaden zu wollen. Dieses Denken hat sich in seiner Einstellung und Wahrnehmung manifestiert. Gleichzeitig weiß er, spürt er, dass es nicht alleine geht, und so verheddert er sich zwischen Annäherung und Abstand; zwischen Nähe und Distanz; zwischen Gut und Böse.

Seine Stimmung wechselt abrupt, als ein weiterer Gast aus dem Haus kommt, der ihn zu kennen scheint. Sie grüßen sich, lachen ausgelassen, wechseln ein paar Worte, dann verschwindet der andere wieder. Manni P. wendet sich erneut dem Gespräch zu.

Mehrfach habe er in „Kloppiburg“ gesessen, wie er die geschlossene psychiatrische Station nennt. Gegen seinen Willen sei er aus dem Urbankrankenhaus entlassen worden, obwohl er Suizidgedanken geäußert habe. „Selbst Kloppiburg will mich nicht“, erzählt er und grinst verlegen.

Eine Annäherung auf Augenhöhe vermisse er. Er sucht einen Weg, der Obdachlosigkeit zu entkommen.

Am liebsten würde er auswandern an jenem Abend, erzählt Manni P., aber er habe kein Geld, weil das Jobcenter seit vier Monaten nicht zahle wegen einer fehlenden Bescheinigung zur Arbeitsfähigkeit. Er würde sich gerne einen Ausweis erstellen lassen, aber habe Angst, aufs Amt zu gehen, weil ein „Hafti“ – ein Haftbefehl – offen sein könnte. Gleichzeitig hofft er sehnsüchtig auf diese „Pause“ dort hinter Gittern mit Bett und Essen.

Nach seiner Meinung ist es fast unmöglich, aus der Obdachlosigkeit „rauszukommen“. „Ich weiß nicht, wie das geht: Große Entscheidungen zu treffen, mich selbst zu organisieren,“ räumt er ein, „ich habe das nie gelernt.“ Mit fünf Jahren schon sei er in Psychiatrien und im Kinderheim untergebracht worden. Die Schule habe er nur bis zur fünften Klasse besucht.

Laut einem Masterplan der ehemaligen Sozialsenatorin Elke Breitenbach (Linke) will das Land Berlin die unfreiwillige Obdachlosigkeit bis 2030 beendet haben. Etwa mit dem Konzept „Housing First“: das sorgt zuerst für eine Wohnung und bietet darüber hinaus Betreuung und Unterstützung an. Diese Herangehensweise wurde durch verschiedene Projekte erprobt und soll nun als zentrales Prinzip schrittweise zur Regel werden.

Eine Wohnung würde er annehmen

Manni P. könnte sich das vorstellen. „Warum nicht?“, fragt er, und es klingt mehr wie eine Feststellung. Wenn er eine Möglichkeit hätte, eine Wohnung zu beziehen, er würde es annehmen, meint er. Aufgrund seiner psychischen Beeinträchtigung und seiner Einschränkungen, sich gut um sich zu sorgen, schafft er es selbstständig jedoch nicht, sich dort anzumelden.

„Ich weiß, wie es ist, wenn man wirklich nichts hat. Das ist schon echt ekelhaft. Und wenn man dann noch gemobbt und diskriminiert wird und sich schämt oder sich so unwohl fühlt. Das laugt den Menschen wirklich auf die letzten Prozent aus – und dann ist er tot.“

Mittlerweile hat die Dämmerung eingesetzt, und Manni P. nimmt seine Sachen. Er warte immer, bis es dunkel wird, bevor er sich schlafen lege. „Mir ist es unangenehm, angeschaut zu werden“, erzählt er. Dann drückt er die zweite geschnorrte Kippe an der Hauswand aus und wendet sich zum Gehen. Ihm steht eine weitere unsichere Nacht im Görlitzer Park bevor.

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