Bremer Linke besucht Flüchtlingslager: „Ein Friedhof der Menschenrechte“
Sofia Leonidakis war im Lager Moria II auf Lesbos. Ein Gespräch über katastrophale Bedingungen, hilflose Bundesländer und Politik der Abschreckung.
taz: Frau Leonidakis, Sie waren gerade auf der Delegationsreise der Linkspartei in einem Flüchtlingslager auf Lesbos in Griechenland und sagen nun: „Wir kommen nicht als die Gleichen zurück“. Warum?
Sofia Leonidakis: Die Gespräche, die wir vor Ort mit Geflüchteten, aber auch mit zahlreichen NGOs geführt haben, haben uns nachhaltig beeindruckt und verändert.
Waren Sie überrascht? Dass das Leben dort die Hölle ist, ist ja allen klar.
Ja, ganz Europa weiß das. Es ist aber doch auch für mich etwas ganz anderes, das Lager selbst zu sehen und selbst mit den Betroffenen zu reden, die schon seit Jahren in dieser unmenschlichen Situation ausharren müssen.
Wie sind gegenwärtig die Lebensbedingungen in dem „Moria II“ genannten Lager Kara Tepe ganz konkret?
Die sind in jeder Hinsicht vollständig katastrophal. Es gibt acht Duschen für über 6.000 Menschen, im Winter stürmt es und es ist kalt, jetzt herrscht bei 30 Grad unerträgliche Hitze, denn es gibt keinerlei Schatten – und es wird noch heißer. Es würde mich nicht wundern, wenn da im Sommer Menschen vor Hitze kollabieren. Im Essen wurde Ungeziefer gefunden, die medizinische Versorgung ist weniger als rudimentär – die Geflüchteten berichten, dass sie für alles Paracetamol bekommen. Traumatisierte Geflüchtete bekommen keine Therapie und die Bedingungen sind für diese Menschen weiterhin traumatisierend, denn sie bieten keinerlei Schutz. Die Geflüchteten dürfen seit über einem Jahr nur einmal die Woche raus, und nur dann können Sie überhaupt externe Hilfsangebote wahrnehmen. Den Rest der Zeit sind sie im Lager eingeschlossen.
Dort leben auch viele Kinder. Wir geht es denen?
Die UN-Kinderrechtskonvention wird gebrochen, die Kinder bekommen keine Bildung – ich habe mit einer Minderjährigen gesprochen, die seit vier Jahren keine Schule von innen gesehen hat. Uns wurde von Kindern berichtet, die sich die Haare ausreißen und nicht mehr sprechen. Ärzt:innen ohne Grenzen spricht von 49 dokumentierten Suizidversuchen unter Kindern in dem Lager alleine in diesem Jahr. Das alles ist eine humanitäre Katastrophe.
Das ist ja aber sowohl von Griechenland als auch von Seiten der EU politisch gewollt, oder?
Die EU hat dieses System, das es ja auch auf vier anderen griechischen Ägäis-Inseln gibt, durch den Deal mit der Türkei ja genauso etabliert. Das sind große Freiluft-Gefängnisse, in denen die Geflüchteten über Monate und Jahre interniert sind; sie kommen dort weder vor, noch zurück und haben keinerlei Perspektive oder Teilhabe. Das Lager ist ein Friedhof der Menschenrechte.
Wie ist die Corona-Situation dort?
Es gibt eine Quarantäne-Station in Kara Tepe, dort sind rund 100 Personen untergebracht. Uns wurde aber berichtet, dass man da eher nicht rein möchte, weil es dort noch schlimmer ist. Die Geflüchteten tragen Masken und es gibt ein paar Handwasch-Stationen, es wird aber nicht wirklich getestet und auch nicht geimpft. Faktisch ist es unmöglich, in dem Lager Corona-Infektionen zu verhindern, zumal die Menschen sehr dicht zusammenleben müssen.
Nach dem Brand in Moria im September hat die ganze Welt nach Lesbos geschaut, Verbesserungen wurden versprochen. Was ist davon angekommen?
geboren 1984 in Überlingen, ist seit 2015 Abgeordnete der Bremischen Bürgerschaft und seit August 2019 Vorsitzende der Linksfraktion in Bremen.
Die zuständige EU-Kommissarin hat damals gesagt: „No more Morias“. Aber die Geflüchteten, die Moria entkommen sind und jetzt in Kara Tepe leben, haben uns alle gesagt: Die Situation ist noch schlechter geworden. Das nimmt den Leuten jede Hoffnung. Und die EU plant zusammen mit der griechischen Regierung und den örtlichen Behörden weitere Verschlechterungen: Es soll ein Camp direkt neben einer Müllkippe in der Einöde auf Lesbos gebaut werden – dort soll die Isolation dann perfektioniert werden. Von dort wird kein Entkommen sein. Und die EU hat dafür 120 Millionen Euro bereitgestellt.
Sehen Sie in der EU relevante politische Kräfte, die an der Situation etwas ändern wollen?
Auf der Seite der Herrschenden nicht, und auch nicht in der Bundesregierung, die ja eine treibende Kraft ist und auch den EU-Türkei-Deal ausgehandelt hat. Und die Bundesregierung verweigert auch seit Jahrzehnten eine Änderung des Dublin-Systems, das die Verantwortung für Asylverfahren auf die Ersteinreise-Staaten abwälzt und sie dann alleine lässt. Zudem hat Griechenland die stärkste Wirtschaftskrise aller europäischen Staaten seit dem Zweiten Weltkrieg zu bewältigen. Hoffnung macht aber, dass es viel Engagement von Freiwilligen vor Ort und aus der Zivilgesellschaft gibt.
Sie sagen: „Die Lager gehören sofort evakuiert!“ Wohin?
20.000 Insassen hatte das Flüchtlingslager in Moria – aber nur 3.000 Plätze. In Moria II leben nun 6.250 Geflüchtete.
1.553 Geflüchtete hat die Bundesregierung zusätzlich einreisen lassen, nachdem Moria im September niedergebrannt war.
90 Euro im Monat bekommen Geflüchtete in Griechenland im Asylverfahren.
Mindestens 44.000 Schutzsuchende haben laut Netzwerk „United“ seit 1993 im Mittelmeer den Tod gefunden.
Lesbos hat 80.000 Einwohner:innen und 20.000 Geflüchtete aufgenommen und Europa hat 500 Millionen Einwohner:innen. Wir haben in Deutschland die Ressourcen und den Platz, Geflüchtete aufzunehmen. Wir würden das gar nicht weiter merken, selbst wenn wir alle Geflüchteten aus Lesbos aufnehmen würden. Über 250 Kommunen und drei Bundesländer wollen Menschen sofort aufnehmen. Es scheitert allein an Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU).
Fühlen Sie sich als Flüchtlingspolitikerin einer Landesregierung, an der Die Linke beteiligt ist, hilflos?
Wir haben alles gemacht, was wir konnten. Aber bei Seehofer, bei dieser Bundesregierung, beißt man da auf Granit. Politisch wäre das Problem ja leicht zu lösen – und das macht hilflos und verzweifelt. Wir werden aber weiter Druck machen. Das, was dort in den Lagern passiert, geschieht in unser aller Namen – es sind meiner Ansicht nach Verbrechen an der Menschlichkeit.
Trotzdem bleibt auch Ihnen nur der Appell.
Das Aufenthaltsgesetz erfordert bisher das Einvernehmen mit dem Bundesinnenministerium, obwohl die Unterbringung, Versorgung und Beschulung von Geflüchteten Sache ja der Länder und Kommunen ist. Derzeit läuft eine Bundesratsinitiative, die versucht, das zu ändern, damit die Aufnahme von 100 Geflüchteten in Bremen nicht mehr länger vom Bundesinnenminister abhängt.
Die EU-Politik ist ja eine der Abschreckung. Funktioniert das?
Nein, die von den Herrschenden beabsichtige Abschreckung hält seit Jahren Menschen nicht von der Flucht ab. Sie flüchten ja nicht, weil sie sich hier ein echt gutes Leben erhoffen, sondern weil der Druck in den Herkunftsstaaten so groß ist. Wir haben in dem Lager viele Menschen aus Afghanistan oder Somalia getroffen, wo Terror herrscht. Und ich habe mit Folteropfern und Opfern von Menschenhandel gesprochen. Die Abschreckung kann noch so groß sein – es ist für viele trotzdem noch die bessere Wahl. Die Bedingungen in den Lagern sind reine Schikane.
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